Der Experte: Thriller (German Edition)
PROLOG
Im Schirm des Laptops sah er sein undeutliches Spiegelbild – ein transparentes Gesicht, gefangen hinter dem Wortdickicht. Wenn er mit dem Einfallswinkel des Lichts spielte und den Kopf um paar Grad nach vorn oder nach hinten neigte, konnte er dem Phantom räumliche Tiefe geben. Er genoss es, sein Bild entstehen und verlöschen zu lassen, sich an die Schwelle der Lebendigkeit zu holen und dann wieder an den Rand des Totenreichs zurückzusenden.
Er hob die rechte Hand und klopfte sich mit der Zeigefingerspitze auf die Mittellinie der Oberlippe, während er las, was er heute bereits geschrieben hatte.
Wir sind nicht wie andere Berufstätige. Während einer Leerlaufphase können wir kein Baseballtraining machen, um unseren Schwung zu behalten, oder Fachzeitschriften lesen, damit wir auf dem aktuellen Stand bleiben. Man verliert das Gespür für einige Dinge. Vor allem aber verliert man das Gespür für die Angst seines Gegenübers.
Hinter ihm war ein feuchter, erstickter Laut zu hören. Von jeher war er der Meinung, dass Angst die Menschen wie Tiere klingen ließ – dass es Ähnlichkeiten gab zwischen dem gepressten Schrei eines hilflosen, verängstigten Menschen und dem Jaulen eines verletzten Hundes oder eines Bären, den die Stahlzähne einer Falle packten. Er drehte sich nicht um. Er entschied, noch ein wenig zu warten.
Wie seltsam, dachte er. Im Moment erschien alles Messbare, alles Quantifizierbare – der Anlass, seine Rolle, die notwendigen Fertigkeiten und Werkzeuge – mehr oder minder gleich geblieben, als wäre nur ein Tag verstrichen und nicht zehn Monate voller Operationen und Regeneration. Doch hier in diesem Kreuzpunkt der Zeit zu sitzen und diesen Neuanfang zu erleben … Wenn es möglich gewesen wäre, eine Röntgenaufnahme vom Gefühlszustand eines Menschen zu machen und sie mit einer solchen Aufnahme von sich zu vergleichen, die vor den Ereignissen des 4. Juli gemacht worden war, so hätten beide, da war er sich sicher, nur wenige Ähnlichkeiten gezeigt. Aus Hügeln wären Berge geworden, aus Bächen Flüsse, aus Felsspalten Schluchten, aus der Erde ein Planet X.
Er stand auf, ging an einen alten, zerschrammten Eichentisch – für seinen Wiedereinstieg ins Leben hatte er etwas Organisches gewollt, vom Menschen geformt, aber von der Natur geschaffen – und blickte auf das Ensemble an Entsetzlichem, das er darauf ausgelegt hatte. Für den April war die Drei-Uhr-Sonne stark, die sich durch das Dachfenster des Raumes ergoss und den Instrumenten einen kupfrigen, schmelzflüssigen Glanz verlieh.
Nach den beiden rekonstruktiven Operationen hatten die Ärzte ihm eröffnet, dass weitere Eingriffe wegen der zu umfangreichen Verletzungen zwecklos seien. Als sie ihm dann die Alternative vorlegten, hatte er gespürt, wie in der schwarzen Ironie des Augenblicks die Verheißung der Perfektion ihr Haupt erhob.
Man würde ihn erneuern, und auch sein Inneres wollte er neu gestalten. Er wollte seine Grenzen erweitern und seine Beschränkungen überwinden. Kosten spielten keine Rolle. Er hatte mehr Geld auf die Seite gelegt, als er jemals ausgeben würde. Sobald seine Umwandlung abgeschlossen war, gab es keinen Schmerz mehr, der zu groß war, um ihn zu ertragen.
Er hatte den Vorgang dokumentiert, mit zwei Kameras, damit ihm kein Detail entging, und während seiner Genesung hatte er Hunderte von Stunden vor dem Video verbracht, jeden Schnitt studiert, jede Abtrennung. In den Monaten nach der Operation hatte er sich täglich nur zwei 50-mg-Fentanyl-Pflaster gestattet und sensorische Vorgänge mit solch qualvoller Intensität erlebt, dass sein Verständnis des physischen Leidens eine radikale Neuausrichtung durchlief, die dem Meisterwerk seiner Chirurgen gleichkam.
Er nahm das einteilige Skalpell von Horatio Kern aus dem Jahre 1867 vom Tisch. Er hatte die üblichen modernen Plastikausführungen mit Wechselklingen ausprobiert, doch ihr geringes Gewicht bereitete ihm Probleme. Daher hatte er einen der Männer nach etwas Massiverem suchen lassen. Der Ebenholzschaft verlieh Kerns Skalpell Gewicht und eine Griffigkeit, die ihn zufriedener stimmte.
Zuerst hatte er an Kaninchen geübt, und nach Wiedererlangen der grundlegenden Fertigkeiten hatte er sich von einem nahegelegenen Hof ein Schwein bringen lassen. Seine Chirurgen hatten ihm versichert, dass ein Schwein in Bezug auf die Dicke der Haut und der subkutanen Fettschichten den Verhältnissen beim Menschen recht ähnlich sei. Näher käme er an
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