Der Chefarzt
bemerkenswerter war Stephans Erscheinen hier. Wozu das Ganze, fragte sich Bertram. War es Stephans gekränkte Eitelkeit, weil er seine Diagnose anzweifelte, oder versuchte er, ihm etwas vorzumachen?
Bertram hatte die Präparate von Violet Girstenbrey unter dem Mikroskop untersucht und auch nochmals Karens Schnitte. Violets Präparate zeigten keine bösartigen Zellen. Die Sache war völlig in Ordnung, seine Diagnose stimmte mit Stephans damaliger Aussage überein.
Bertram zögerte: »Ich habe dir schon mal von dem Brief in Elisabeths Schmuckkassette erzählt, erinnerst du dich?«
Stephan nickte.
»Dieser Brief stammt von Violets Mann. Der Kerl liebte sie abgöttisch. Ich habe ihn aufgesucht und mit ihm gesprochen.«
»Du hast es getan, weil du erfahren hast, daß die erste Untersuchung keine Tumorzellen ergeben hat. Das sieht dir ähnlich.«
»Du mußt schon zugeben, die Sache ist ungewöhnlich. Eine junge Frau wird von erstklassigen Fachleuten untersucht und für gesund erklärt. Ein Jahr später stirbt sie an den Folgen eines Brustkrebses, und zwar auf derselben Seite.«
»Du hast die Präparate selbst gesehen?«
»Ja.«
»Was hast du gefunden?«
»Nichts. Das weißt du genauso wie ich. Im Probeschnitt von Violet Girstenbrey bei ihrem ersten Krankenhausaufenthalt sind keine Tumorzellen nachweisbar, dennoch …«
»Ich bin Pathologe und kein Wahrsager«, sagte Stephan milde, »ich kann die Diagnose dessen, was ich unter dem Mikroskop sehe, stellen. Wir können gemeinsam den Chirurgen beschuldigen, wir können unterstellen, er hätte sich verschnitten und nicht den richtigen Knoten erwischt. Das wäre eine gute Idee. Es sind nur Spekulationen, bewiesen ist damit noch nichts.«
»Sie ist ja tot!« Bertram trank sein Glas aus. Nachdenklich schwieg Stephan, dann sagte er behutsam: »Warum hast du Karens Präparate noch einmal haben wollen? Du hast sie damals selbst gesehen. Zweifelst du neuerdings auch daran?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Bertram hilflos. »Etwas verwirrt mich an dieser Geschichte, es spukt in meinem Kopf. Ich glaube, ich habe was übersehen. Aber was?«
Stephan Thimm.
Jenseits des Leides
1
Er ist ein zartgliedriges Kind, bevor im Erwachsenenalter alles an ihm lang und knochig wird und seine Haut, fahlgelb und runzlig von der Luft der Sektionssäle, vorzeitig altert. Seine ständig geröteten grauen Augen blicken müde und vereinsamt, oft kommt die Kälte durch, mit der er seine Leichen seziert; Tote brauchen kein Mitleid.
Mit sechs Jahren schnuppert er an seinen Wollsocken, die ihm die Oma gerade auszieht, es ist ein kräftiger Geruch. Er ist gerade vom Kindergarten nach Hause gekommen. »Stephan hat eine Freundin«, sagt die Oma – »Emilie!« Die Erwachsenen lächeln, ihn überkommt eine heiße Schamwelle, er fühlt sich verraten. Es ist ein streng gehütetes Geheimnis, das er seiner Oma anvertraut hat. Zum erstenmal lernt er, mit seinem Vertrauen vorsichtig umzugehen, später geizt er sein ganzes Leben damit.
»Bobbi«, sagt die Mutter, »riech nicht an den Socken.« Eigentlich heißt er Gangolf, später wählt man auf Betreiben seines Vaters den Rufnamen Stephan.
»Thimm klingt ausländisch genug«, argumentiert der Vater, »wenn du noch Gangolf zu ihm sagst, ist er den Kindern in der Schule ausgeliefert, Ilona.«
Darauf die Mutter: »Mein Gott, diese Barbaren.«
Sie ist eine zierliche, kleine Person von durchsichtiger Schönheit, mit langen, tiefschwarzen Haaren. Sie wirkt kraftlos und zerbrechlich. ›Diese Barbaren‹ ist ein Ausdruck, der einen wichtigen Standort in ihrem Leben verrät, im Laufe der Jahre nimmt er an Bedeutung zu. »Was haben wir Schlimmes getan, weil wir Volksdeutsche sind?« fragt Stephan eines Tages. Sie bleibt stehen: »Du sollst schlafen und keine dummen Fragen stellen!«
Sie wohnen in Siebenbürgen und etwas isoliert von der deutschen Minderheit, inmitten von Rumänen. Es ist ein aufregendes Leben, draußen laut, flüsternd zu Hause.
Sein Vater ist Ingenieur in einer Holzverarbeitungsfabrik, ein großer, robuster Mann, dessen Vitalität die Ruhe des Hauses sprengt. Er schätzt einen guten Tropfen und trinkt manchmal einen über den Durst, ein Mensch zum Gernehaben. Er leistet seiner Frau Widerstand, so gut er kann, die ihn drängt, nach Deutschland auszuwandern. Er verdient hier gut, die Familie ist gesund, der Junge hat seine Schulkameraden, was will man mehr. Wenn er ins Wanken gerät, ergreift er die Flucht und kommt erst spät in der Nacht
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