Der Chefarzt
Das eigentliche Ich wird verleugnet, die begeisterten Pläne verblassen im Alltag, der Weg zum Erfolg zieht sich fad und endlos hin. Kraftlosigkeit übermannt beide, Bertram und ihn. Sie spritzen weiße Mäuse mit Alkohol, um Leberkrankheiten zu erzeugen, dann töten sie sie, und er untersucht die Leber unterm Mikroskop. Bertram, der Freund, ist der einzige Mensch, den er an sich heranläßt, er kämpft gegen seine überlegene Verachtung, die er allem Lebendigen entgegenbringt und seine Kollegen vor den Kopf stößt. Es ist um die Zeit, wo Thimm fest daran glaubt, die Fähigkeit zu leiden und zu lieben verloren zu haben. Bertram rettet ihn vor der absoluten Vereinsamung der Sektionssäle. In jedem Menschen gibt es einen Traum, auch in ihm. Nur nimmt er erst Gestalt an, als Karen von Kerckhoff in sein Leben einbricht.
Es ist ein Einbruch, keine Begegnung, alle für ihn geltenden Normen sind gesprengt. Thimm verliebt sich kopflos, schrecklich, wie ein Gymnasiast.
Nach altbewährtem Rezept versucht er dagegen anzukämpfen. Er sagt sich: ›Es ist jene Art von Liebe, der du mißtraust und die du geleugnet hast, diese Sehnsucht nach einer Frau, von der man nicht loskommen soll, lebenslänglich, für die es keinen Ersatz geben soll.‹ Es gibt keinen, er bleibt dabei. Zu dieser Zeit weiß er noch nicht, daß die Menschen, die von einem geliebt werden, nicht zwangsläufig dieselben sind, die einen lieben. Eine Erfahrung, die ihm noch bevorsteht.
3
In der Woche von Stephans Besuch schlug Bertram seiner Frau überraschend vor, mit ihr in die Oper zu gehen. Bertrams besaßen ein Abonnement, das nur von ihr in Anspruch genommen wurde, er ging nicht in die Oper. An diesem Abend wurde ›Hänsel und Gretel‹ aufgeführt und Bertram erschien pünktlich im Foyer, wo er mit seiner Frau verabredet war. Während der Vorstellung verhielt er sich still und in sich gekehrt, sein Gesicht war völlig abwesend, so daß Malvina mit einem kaum vernehmbaren Seufzer in der Pause vorschlug, vorzeitig zu gehen. Diese Art stillen Heldentums brachte sie in Rage, er war in der Lage, ihretwegen eine ganze Vorstellung über sich ergehen zu lassen. Sie täuschte großen Hunger vor, und als sie seine Erleichterung sah, lächelte sie ihn zärtlich an. Sie suchten ein Künstlerlokal in der Nähe der Oper auf, es war halb leer und sie bekamen einen Tisch in einer ruhigen Ecke. Bertrams Stimmung besserte sich. Sie bestellten einen Aperitif, und er erzählte ihr eine unbedeutende Episode mit einem seiner Oberärzte und schloß mit den Worten: »Curd Jahnke ist ein Narr.«
Malvina, die ihren Mann kannte, wußte, daß er sich um Konversation bemühte, und sie ergriff, wie zwischen ihnen üblich, die Initiative. In der letzten Zeit sahen sie sich selten und waren fast nie allein, ständig besuchten sie irgendwelche Veranstaltungen und immer hatten sie fremde Menschen um sich. An diesem Abend zeigte Bertram das Bedürfnis, mit ihr allein zu sein, was nicht oft vorkam.
Über ihr Glas lächelte Malvina ihm liebenswürdig zu und sagte: »Wir verhalten uns wie zwei sympathische Menschen, die einen unsympathischen umbringen wollen.« Als er sie betroffen ansah, wußte sie, warum. Er wollte nicht wahrhaben, daß andere ihn durchschauten.
»Du siehst so aus«, sagte sie scherzhaft, »als würdest du mich für deine Rache benötigen. Erzähl es mir lieber.«
»Zwischen Stephan und mir ist neulich etwas vorgefallen.« Bertram hatte Schwierigkeiten mit der Formulierung. »Er hat mir nicht die Wahrheit gesagt.«
»Stephan? Du meinst Thimm? Ich halte es für unwahrscheinlich, obwohl ich nicht weiß, worum es geht.«
»Vielleicht sollte ich es anders ausdrücken. Möglicherweise liegt ein bedauernswerter Fehler vor, dessen Opfer er selbst ist.« Bertram erzählte ihr etwas weitschweifig Violet Girstenbreys Geschichte. Unter ihrem nachdenklichen Blick schloß er: »Stephan kam zu mir, als er von seinem Archiv erfuhr, daß ich die Schnitte von Violet erhalten hatte.«
»Ist das nicht verständlich, wenn du seine Diagnose anzweifelst?«
»Nicht bei Stephan, er ist von seiner Gottähnlichkeit überzeugt.«
»Also doch eine Fehldiagnose!«
»Nein, zum Teufel. In den vorhandenen Präparaten fanden sich keine Tumorzellen.«
»Was meinst du mit vorhandenen?«
»Diejenigen, die aufbewahrt wurden.«
»Alle Präparate werden aufbewahrt, das weißt du.«
»Zumindest sollten sie.«
»Wenn ich dich so reden höre, kommt es mir vor, als wärst du drauf und dran, Stephan
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