Der Chefarzt
nach Hause und ist angetrunken, in seinem Kopf noch die Klänge der Zigeunerkapelle. Sein robustes Äußeres täuscht, sie ist die Stärkere. Eines Tages wird die Auswanderung beschlossen, die Vorbereitungen sind umständlich und werden von seinem Vater mit halbem Herzen betrieben.
Diese Zeit empfindet Stephan als Galgenfrist. Er erlebt das Sterben einer Liebe, wobei ihn nicht die Liebe, sondern das Sterben besonders berührt, die Endgültigkeit des Verlierens. Es ist eine seltsame Gefühlsregung, die er mit atemloser Spannung erlebt.
Das Sonderbare daran ist, daß er sich in diese Emilie erst richtig kopflos verliebt, als ihre Auswanderung bevorsteht. Bis dahin fand er Gefallen an ihr, es war ein lauwarmes Gefühl.
In der Schule sagt man Thimm zu ihm, später, als sie übersiedelt sind, Thimmi. In Deutschland klingt Siebenbürgen wie ›Mondlandschaft‹, sein Dialekt ist ein weiterer Grund zur Belustigung.
Er paßt sich der neuen Umgebung schnell an, hat neue Freunde und zeigt Talent beim Fußball. Seine Mutter sagt nach wie vor ›diese Barbaren‹, sie hat damit viel zu lange gelebt. Sie stirbt an einer galoppierenden Schwindsucht innerhalb kurzer Zeit, gerade als die Nationalsozialisten die Macht ergreifen.
In der Schule sind blond und blauäugig plötzlich begehrt. Stephan bekommt eine neue Mutter.
Sie ist Arierin, hat eine lange, gebogene Hakennase und große, weiche Brüste, die bei jedem Schritt wippen. Sie besteht aus lauter Rundungen und keinen Ecken, dennoch verändert sich sein Vater, er wirkt unglücklich und altert schnell. Anscheinend weiß er mit der ihm zugefallenen Rolle des Hausherrn nichts Rechtes anzufangen.
»Wenn Urgroßvater zu einem Viertel Jude war, dann ist Mama nur zu einem Sechstel …«, sagt er und unterbricht sich, als er das blasse Gesicht seines Vaters sieht. Zum Glück ist die Stiefmutter nicht dabei.
Bald darauf unternehmen Vater und Sohn einen Spaziergang und der Vater stottert, versucht es mit einem nicht sehr gelungenen Beispiel: »Stell dir vor, was passiert, wenn jemand erfährt, daß Mammi aus einer jüdischen Familie stammt. Mich wird man ins KZ stecken, womöglich den Kopf abhacken.«
»Ich werde es niemand sagen, Ehrenwort!« verspricht er. Am nächsten Tag ertappt er sich dabei, wie er sich beim Frühstück seinen ahnungslos Kaffee trinkenden Vater ohne Kopf vorstellt: ein Rumpf im dunkelgrauen Wollanzug. Daß es sich um seinen Vater handelt, berührt sein Gemüt kaum. In seinen Gedanken sieht er oft Teile eines menschlichen Körpers. Arme oder Beine. Es wird nur seine Neugierde geweckt, er selbst bleibt gefühllos.
Bald nach diesem Gespräch bekommt er von seinem Vater ein kostbares Geburtstagsgeschenk: die goldene Taschenuhr seines Großvaters. Auf der Innenseite des aufspringenden Deckels ist eingraviert: Jonathan-Josef zu seiner Reife von seinen ihn liebenden Eltern, anno 1887.
2
Mit einundzwanzig hat er ein abgebrochenes Jurastudium hinter sich und hat ein Mädchen. Es ist ein merkwürdiges Verhältnis. Sie heißt Klara Seuberth und stammt aus einer alteingesessenen Anwaltsfamilie in der Stadt. Sie ist von ruhigem, angenehmem Wesen, gehört zu jenen Frauen, die Liebe und Leid schweigsam ertragen. Das Körperliche zwischen ihnen beschränkt sich auf ein paar flüchtig-unbeholfene Küsse, dennoch gehen sie regelmäßig aus, fast drei Jahre lang: Oper, Konzerte, Kino. Sie ist für ihn immer da und stets bereit, er verfügt über ihre Zeit wie ein anspruchsvoller Liebhaber, der schwer zufriedenzustellen ist. Manchmal, von seinem Gewissen geplagt, versucht er, in seine Gefühle Ordnung zu bringen. Er ignoriert die erwartungsvollen Blicke ihrer Eltern, zögert, schiebt die Entscheidung vor sich her.
Im vierten Jahr ihrer Bekanntschaft – er studiert schon sechs Semester Medizin – verlobt sich Klara mit einem jungen Juristen, einem ehemaligen Klassenkameraden von ihm, mit dem er in derselben Fußballmannschaft spielte. Er ist zutiefst getroffen, spielt den gekränkten Liebhaber, obwohl er nie einer war, beantwortet ihren Brief nicht.
Zwei Tage vor ihrer Hochzeit kommt sie überraschend in seine Studentenbude, es ist kurz vor Mitternacht, sie zittert am ganzen Körper. Erst jetzt, als sie sich mit der Hingabe einer Verzweifelten an ihn drückt, ahnt er, welchen Mut sie für diesen Schritt aufbringen mußte. Die Nacht über bleibt sie bei ihm. In seiner Erinnerung ist diese Nacht mit dem herben Thymiangeschmack ihrer Lippen behaftet. Er ist der erste Mann
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