Der Chefarzt
vor kurzem zurückhaltend und scheu, ergriff er jetzt jeden Vorwand, um in ihrer Nähe zu sein. Er verlängerte die Visiten im Zimmer, und über die anderen Betten hinweg betrachteten Lisa und Fritsch einander. Am Abend zuvor waren sie zwei Menschen gewesen, die mit einer Art verschämter Begierde nach Worten suchten, die mehr ausdrückten als eine Liebeserklärung.
Als er abends die Klinik verließ, kam Lisa ihm entgegen. Sie trafen sich regelmäßig auf dem Treppenabsatz zwischen den Stationen und taten doch gleichmütig so, als sei es Zufall. Während sie sich sehnlichst wünschte, ihn hinunterzubegleiten, fragte er sie – zum wievielten Male? –, wie es ihr ginge. Auch sein Hinweis auf das, was er befürchtete – wobei er das Lächeln der vorübergehenden Patienten ignorierte –, hielt sie von diesem Wunsch nicht zurück. Nur schlug er ihr nie vor, ihn zu begleiten.
Wenn er Nachtdienst hatte, erledigte er die anderweitigen Verpflichtungen früher und kam gegen halb elf – die meisten Patienten schliefen – auf die Station, wo sie schon eine Weile im Flur auf und ab ging.
Sie nahm seine Lösung des Problems dankbar an und, nachdem sie einige Sätze gewechselt hatten, gingen sie ins Stationszimmer, um miteinander eine Zigarette zu rauchen. Er reichte ihr Feuer, und über dem brennenden Streichholz prägte sie sich den Glanz seiner Augen ein. Fritsch begann zu reden. Sein Zögern verlieh seinen Worten sonderbares Gewicht. Ihr bewundernder Blick weckte in ihm ungeahnte Kräfte und Freude am Wagnis, ja machte ihn prahlerisch.
»Was meinten Sie«, fragte sie, »als Sie das letzte Mal von Ihrer ›Nutzlosigkeit‹ sprachen? Offen gesagt, ich habe Ihnen zugehört, ohne auch nur ein Wort zu verstehen von dem, was Sie sagten. Ich fand Ihre Selbstbezichtigungen ungeheuerlich.«
»Nein, nein«, wehrte er ab. »Aber ich wollte Ihren falschen Eindruck von mir korrigieren. Sie scheinen zu glauben, daß mein Leben aus einer Vielzahl freudeerweckender Pflichten besteht, dabei ist es eher deprimierend.« Er unterstrich diese Worte mit einer nachdenklichen Geste.
»Na«, sagte Lisa ungeduldig, »Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß eine respektable Persönlichkeit wie Sie …« Sie verfing sich, weil sie ihn eigentlich ganz anders sah, aber nicht die Absicht hatte, es ihm zu sagen.
»Ich habe nicht die Gabe, mich ins rechte Licht zu setzen«, beklagte er sich, auf Ohlhaut gemünzt. »Ich versuche es immer …«
»Sie haben etwas viel Wertvolleres«, kam ihm Lisa sanft zuvor, »Sie sind der geborene Arzt.«
Noch nie hatte jemand das zu ihm gesagt.
Zwei Wochen nach Lisas erster Enttäuschung stand Bertram wieder an ihrem Bett und untersuchte sie. Den Druck seiner Hände spürte sie kaum, obwohl sie das Empfinden hatte, er würde jedes einzelne Organ einer mißtrauischen Prüfung unterziehen. Es dauerte lange, bis er fertig war. »Eine Resistenz ist da, flach und atemverschieblich.« Seine überlegene Stimme verriet, daß er zu keinem Entschluß gekommen war. Dennoch belehrte er Fritsch – in scharfem Ton –: »Von einer Walze kann keine Rede sein.«
Fritsch erwiderte errötend: »Letzten Endes läuft es auf eine Probe-Laparotomie hinaus.« Damit entsprach er Bertrams Wunsch, der seinen Stationsärzten Initiative abverlangte. Also schlug Fritsch eine Probeöffnung der Bauchhöhle vor und Lisa, die das lateinische Wort nicht verstand, aber in seinem Gesicht zu lesen wußte, spürte die Wichtigkeit dieses Augenblicks. Die Zärtlichkeit seiner Nähe wich der Furcht vor dem Unbekannten.
»Probe-Laparotomie. Damit kann man die Entscheidung gleich herbeiführen«, murmelte Bertram.
Seine Stimme behielt immer noch ihre Nachdenklichkeit, als er überraschend verfügte: »Abwarten. Stellen Sie mir die Patientin demnächst noch einmal vor.«
Lisa wollte zu Fritsch sagen: »Bleib bei mir«, denn sie fürchtete sich davor, allein gelassen zu werden, jetzt, wo die Lösung ihres Problems noch einmal verschoben und das Ende wieder nicht abzusehen war. Dann fiel ihr ein: ›Solange ich hier bin, habe ich ihn.‹
4
Als Bertram nach Professor Auerbachs Erkrankung wieder an die Klinik zurückkehrte, gab es einen jungen Stationsarzt, den er besonders bevorzugte. Der Junge mußte einen Träumer als Vater gehabt haben, er hieß Pegasus Schöndorfer und erinnerte Bertram auf eine seltsame Weise an sich selbst vor zehn Jahren. Er war arbeitsam, den Patienten gegenüber vorsorglich und opferte ihnen seine freie Zeit. Er
Weitere Kostenlose Bücher