Der Chefarzt
merkst du es, ich spreche davon nicht mehr wie von einem Unglück? – ist mir vieles klargeworden. Früher fand ich nie den Mut, über mein Leben nachzudenken.«
Eines Tages sagte sie: »Ich bin an dem Punkt angelangt, wo ich mich frage, ob mein Leben nicht sinnlos gewesen ist. Ich habe nie etwas anderes getan, als dich zu lieben. Doch glaube ich nicht mehr, daß die Liebe ausreicht, ein ganzes Leben auszufüllen.«
Er blieb ihr nichts schuldig. Er setzte sich zur Wehr: »Du hast mich damals darum gebeten, zu dir zurückzukommen. Wir hatten schon über ein Jahr getrennt gelebt und sind, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, ganz gut ohne einander ausgekommen. Ich zumindest.«
Er sagte: »Solange ich zurückdenken kann, hattest du mich in Beschlag genommen. Du hast aus mir dein Eigentum gemacht. Niemand durfte dir dieses Eigentum streitig machen, sogar Karen nicht, die viel früher als du …«
Sie reagierte verletzt: »Es ist eine ausgemachte Gemeinheit, mir die Liebe zu dir vorzuwerfen. Du warst immer ein kalter Mensch, der Gefühle vortäuschte und vor der Leidenschaft zurückschreckte. Für dich gab es nur eines, das dir wichtig und unentbehrlich war: deine Karriere. Dafür warst du bereit, über Leichen zu gehen. Um deiner Karriere willen hast du viele Menschen geopfert, mich inbegriffen. Dein Leben lang hast du dich von zwei Dingen leiten lassen: von deinem Stolz und deiner Macht.«
»Du vergißt, daß ich deine Berufung zur Märtyrerin inzwischen kenne. Also komme von deinen Phrasen …«
»Nicht, ohne dir vorher gesagt zu haben, daß, wenn Härte und Egoismus zu nichts führen, du die Bestätigung dafür bist!«
»Mag sein. Ich bin seit langem nicht mehr anfällig für Mondschein, Malvina.«
»Willst du damit ausdrücken, du wärst nicht sentimental?«
»Allerdings.«
»Mein Gott«, sagte sie emphatisch, »diesen Mann habe ich geliebt!«
Vieles war überspitzt und übertrieben, manches nur zu wahr.
An einem Donnerstag flog er nach London; er hielt eine Rede auf einem Kongreß über Lebererkrankungen. Von einer plötzlichen Sehnsucht nach ihr übermannt, rief er sie vom Flughafen an. Diese Sehnsucht war aus der nackten Angst geboren, sie zu verlieren.
»Nimm die Achtzehn-Uhr-Maschine«, sagte er, »ich kann mir den Abend ohne dich nicht vorstellen.« (Er sagte nicht einfach: »Ich habe Sehnsucht nach dir.«) Ein zehnjähriger Bub preßte seine Nase an die Telefonzelle, sah ihn und errötete.
Er wurde erwartet. Der Präsident der Britischen Gesellschaft für Gastroenterologie hatte seinen Chauffeur geschickt, um ihn abzuholen.
»Kennen Sie ein Hotel am Themseufer?« fragte er den Chauffeur. Sie fuhren bereits zum Hilton, wo für ihn eine Suite reserviert war. »Ich denke an ein kleines Hotel außerhalb Londons, vielleicht in ländlicher Umgebung.«
»Ich kenne ein Gasthaus, sehr englisch, wenn Sie das meinen. Möchten Sie es vorher sehen?«
»Ja. Fahren Sie gleich hin.«
Der Chauffeur wendete und gestattete sich ein Lächeln. »Es ist ein Rangierbahnhof in der Nähe, Sir. Mit echten Dampflokomotiven.«
Flucht aus der Wirklichkeit. Malvina auf dem Flughafen mit einem verwirrten Lächeln, das ihr Erstaunen nicht verbirgt. Er sagt verlegen: »Du bist da, alles andere ist jetzt unwichtig. Ich bin seit langem nicht mehr neugierig auf das, was ich vor mir habe.«
Sie fahren mit dem Taxi zurück ins Hotel. Sie küßt ihn, ein langer Kuß, zunächst zögernd, der ihm ihre Verzweiflung verrät. Der erste seit langer Zeit. Das Zimmer ist unpersönlich, eine Art Garantie für Neutralität, keine plötzlichen Erinnerungen. Eine angebrochene Flasche Wein. Eine lange zurückgehaltene Leidenschaft, die am Ende physische Schmerzen bereitet. Von ihrer Intensität verwirrt, sucht er Zuflucht in seinem gewohnten ironischen Gedankengang: ›Ich genieße die Erfüllung meiner ehelichen Pflichten wie bei einem Seitensprung. In fremder Umgebung beweise ich Leistungsfähigkeit und Potenz. Ich werde alt.‹
In diesem Augenblick wird er sich des Pfeifens einer Lokomotive bewußt. Dicht an seinem Ohr flüstert Malvina: »Du kannst mir den Vorwurf machen, daß ich dich auf eine recht egozentrische Weise liebe, aber nicht, daß ich dich nicht liebe.«
Am nächsten Morgen geht Bertram als erster hinunter. Der Wirt macht ein etwas verlegenes Gesicht. »Ihr Frühstück, Sir? Das, hmm … von Ihrer Frau, soll es aufs Zimmer gebracht werden?«
»Sie kommt gleich«, sagt Bertram schmunzelnd, »sie ist tatsächlich
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