Der Chinese
wir, und wenn sie fallen, kaufen wir. Wir sind ›daytraders‹.« Vivi Sundberg dachte, dass sie sich über nichts mehr wundern sollte. Warum konnte nicht ein gealtertes Hippiepärchen in einem Dorf in Hälsingland mit Aktien handeln? »Außerdem reden wir viel«, fuhr Ninni fort. »Erzählen uns Geschichten. Das tun die Menschen heutzutage nicht mehr.«
Vivi Sundberg bekam das Gefühl, dass das Gespräch ihr aus den Händen glitt. »Die Namen«, sagte sie. »Wenn möglich auch das Alter. Nehmen Sie sich Zeit, damit es richtig wird. Aber nicht mehr als nötig.«
Sie sah, wie die beiden sich über das Papier beugten und murmelnd Namen aufzuschreiben begannen. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Unter allen denkbaren Erklärungen für das Massaker konnte natürlich auch die Möglichkeit sein, dass ein Dorfbewohner die Tat verübt hatte.
Nach fünfzehn Minuten war die Liste fertig. Sie zählte die Namen und kam auf einundzwanzig Personen. Sie hatten sich selbst und Julia mit auf die Liste gesetzt. Die Zahl stimmte nicht. Sie wussten den Namen des Jungen nicht. Sie stellte sich ans Fenster und las die Liste durch. Es schien drei verzweigte Familien im Dorf zu geben. Eine Gruppe, die Andersson hieß, eine zweite mit dem Namen Andren und schließlich zwei Personen mit dem Namen Magnusson. Als sie mit der Liste in der Hand dastand, dachte sie an all die ausgeflogenen Kinder und Kindeskinder, die binnen kurzem einen Schock erleben würden, wenn sie erfuhren, was geschehen war. Wir brauchen große und weitreichende Hilfe, um alle informieren zu können, sagte sie sich. Dies ist eine Katastrophe, die viel mehr Menschen berührt, als ich mir vorstellen kann.
Ihr war klar, dass diese Aufgabe zum großen Teil ihr selbst zufallen würde. Sie fühlte sich bei dem Gedanken daran hilflos und furchtsam zugleich. Was hier geschehen war, war zu entsetzlich, als dass ein normal funktionierender Mensch es verstehen und anschließend entsprechend damit umgehen konnte.
Alle Vornamen flimmerten vorbei, Elna, Sara, Brita, August, Herman, Hilda, Johannes, Erik, Gudrun, Vendela. Sie versuchte, sich ihre Gesichter vorzustellen, aber sie blieben verschwommen.
Plötzlich fiel ihr etwas ein, was sie bisher vollkommen übersehen hatte. Sie ging hinaus auf den Hof und rief Erik Hudden zu sich, der mit einem der Kriminaltechniker sprach. »Erik, wer hat das hier eigentlich alles entdeckt?«
»Es war ein Mann, der angerufen hat. Dann starb er und stieß mit einem Möbelwagen zusammen, in dem ein bosnischer Fahrer saß.«
»Stieß zusammen und starb?«
»Nein, er starb. Ein Herzinfarkt vermutlich.«
»Kann er der Täter gewesen sein?«
»Auf den Gedanken bin ich noch nicht gekommen. Er hatte mehrere Kameras im Wagen. Er schien Fotograf zu sein.« »Finde so viel über ihn heraus, wie du kannst. Dann müssen wir hier in diesem Haus eine Art Hauptquartier einrichten. Müssen die Namen durchgehen und nach Angehörigen suchen. Und was ist mit dem Fahrer des Möbelwagens?«
»Ich habe ihn ins Röhrchen blasen lassen. Aber er war nüchtern. Weil er so schlecht Schwedisch sprach, haben sie ihn mit nach Hudiksvall genommen, statt ihn draußen auf der Landstraße zu vernehmen. Aber es schien nicht so, als wüsste er etwas.«
»Das können wir nicht so sagen. War es nicht Bosnien, wo sie sich kürzlich gegenseitig abgeschlachtet haben?« Erik Hudden verschwand. Sie wollte wieder ins Haus zurückkehren, als sie einen Polizisten sah, der auf der Straße angelaufen kam. Sie ging ihm zum Gartentor entgegen. Sie sah, dass er Angst hatte.
»Wir haben das Bein gefunden«, sagte er. »Der Hund hat es ungefähr fünfzig Meter tief im Wald aufgespürt.« Er zeigte auf den Waldrand.
Vivi Sundberg hatte das Gefühl, dass der Mann noch mehr sagen wollte. »Ist das alles?«
»Ich glaube, am besten siehst du es selbst«, sagte er.
Dann wandte er sich ab und erbrach sich. Sie kümmerte sich nicht um ihn, sondern eilte zum Wald. Zweimal rutschte sie aus und fiel.
Als sie ankam, sah sie, warum der Polizist so aus der Fassung war. Das Bein war stellenweise bis auf den Knochen abgenagt. Der Fuß war ganz abgebissen.
Sie sah Ytterström und den Hundeführer an, die neben dem Fund standen. »Ein Kannibale«, sagte Ytterström. »Suchen wir danach? Haben wir ihn bei seiner Mahlzeit gestört?« Etwas fiel auf Vivi Sundbergs Hand. Sie fuhr zusammen. Aber es war nur ein Schneeklümpchen, das rasch
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