Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
schmolz. »Ein Zelt«, sagte sie. »Hier muss noch ein Zelt her. Die Spuren dürfen nicht zerstört werden.«
     
    Sie schloss die Augen und dachte plötzlich an ein blaues Meer und an weiße Häuser, die sich an einem besonnten Berghang in die Höhe zogen. Dann ging sie zum Haus der Aktieninhaber zurück und setzte sich mit ihrer Namensliste in die Küche.
     
    Irgendwo muss es etwas geben, was ich nicht entdeckt habe, dachte sie. Langsam ging sie die Liste durch, einen Namen nach dem anderen. Es war, als bewegte sie sich auf einem Minenfeld.
     
    Es kam Vivi Sundberg vor wie die Grabinschrift der Opfer einer Katastrophe. Wenn ein Flugzeug abgestürzt oder ein Schiff gesunken war, würde man eine Gedenktafel mit den Namen der Toten errichten. Aber wer würde den Gedenkstein für die Menschen errichten, die in einer Januarnacht 2006 ermordet worden waren?
     
    Sie schob das Blatt mit den Namen von sich und sah auf ihre Hände. Es gelang ihr nicht, sie still zu halten. Sie zitterten. Gäbe es jemanden, an den sie die Verantwortung abtreten könnte, so würde sie nicht zögern. Sie wollte gute Arbeit leisten und vielleicht anerkannt werden. Aber nach einer Beförderung in eine Chefposition stand ihr wahrlich nicht der Sinn. Sie hatte sich immer als ehrgeizig eingeschätzt, aber kaum als machthungrig. Doch gerade jetzt gab es niemanden, der besser als sie die Verantwortung für die Ermittlung übernehmen konnte. Die Zusammenarbeit mit Staatsanwalt Robertsson fiel ihr leicht. Tobias Ludwig, der bald im Dorf erscheinen würde, wahrscheinlich von einem Hubschrauber abgesetzt, konnte keine Verantwortung für eine Verbrechensermittlung übernehmen. Er war ein Bürokrat, der Geld zählte, Überstunden ablehnte und seine Untergebenen auf sinnlose Seminare darüber schickte, wie man höhnische Kommentare der Menschen auf der Straße an sich abprallen ließ.
     
    Sie fröstelte und zog die Namenliste wieder an sich. 

    Erik August Andersson
     
    Vendela Andersson
     
    Hans-Evert Andersson
     
    Elsa Andersson
     
    Gertrud Andersson
     
    Viktoria Andersson
     
    Hans Andren
     
    Lars Andren
     
    Klara Andren
     
    Sara Andren
     
    Elna Andren
     
    Brita Andren
     
    August Andren
     
    Herman Andren
     
    Hilda Andren Johannes Andren
     
    Tora Magnusson
     
    Regina Magnusson

     
    Achtzehn Namen. Drei Familien. Sie stand auf und ging in das Zimmer hinüber, in dem die Eheleute Hansson saßen und flüsternd miteinander sprachen. Sie verstummten, als sie eintrat.
     
    »Sie haben gesagt, dass es hier im Dorf keine Kinder gebe. Stimmt das?«
     
    Beide nickten.
     
    »Sie haben auch in den letzten Tagen keine Kinder gesehen ?« 
    »Manchmal kommen die Kinder zu Besuch und bringen ihre eigenen Kinder mit. Aber nicht besonders oft.« Vivi Sundberg zögerte, bevor sie fortfuhr. »Leider gibt es einen kleinen Jungen unter den Toten«, sagte sie und zeigte auf eins der Häuser.
     
    Die Frau sah sie mit aufgerissenen Augen an. »Ist er auch tot?«
     
    »Ja, er ist tot. Wenn es stimmt, was Sie geschrieben haben, dann war er im Haus von Hans-Evert und Elsa Andersson. Sind Sie sicher, dass Sie nicht wissen, wer er ist?« Sie sahen einander wieder an und schüttelten dann die Köpfe. Vivi Sundberg stand auf und ging zurück in die Küche. Die neunzehnte Person hatte keinen Namen. Sie fällt aus dem Rahmen, dachte sie. Sie und die beiden Personen in diesem Haus und die demente Julia, der es erspart bleibt, zu dieser Katastrophe Stellung zu nehmen. Achtzehn Menschen, die gestern Abend ins Bett gingen, um zu schlafen, sind jetzt tot. Und der Junge. Aber er gehört irgendwie nicht dazu. Sie faltete das Blatt zusammen, steckte es ein und ging nach draußen. Vereinzelte Schneeflocken fielen zu Boden. Alles um sie her war sehr still. Nur hin und wieder Stimmen, eine Tür, die geschlossen wurde, das Geräusch von Werkzeug. Erik Hudden kam auf sie zu. Er war sehr bleich. Alle waren bleich.
     
    »Wo ist die Ärztin?« fragte sie.
     
    »Draußen bei dem Bein.«
     
    »Wie wirkt sie?«
     
    »Geschockt. Zuerst stürzte sie auf eine Toilette. Dann fing sie an zu weinen. Aber es sind weitere Mediziner auf dem Weg. Was machen wir mit den Journalisten?«
     
    »Ich rede mit ihnen.«
     
    Sie zog ihre Namenliste aus der Tasche. »Der Junge hat keinen Namen. Wir müssen herausfinden, wer er ist. Sieh zu, dass diese Liste kopiert wird. Aber verteile sie nicht.« 
    »Es ist unvorstellbar«, sagte Erik Hudden. »Achtzehn Personen.«
     
    »Neunzehn. Der Junge

Weitere Kostenlose Bücher