Der Chirurg von Campodios
unter dem Tuch hervorklangen, sprachen dafür.
»Was gibt’s, Harvey?«, krächzte eine Stimme, die klang, als würde ihrem Besitzer die Nase zugepresst. Banester schlug das Tuch zurück. Wabernde, aus einer Schüssel aufsteigende Inhalationsdämpfe wurden sichtbar. Sie umspielten ein verquollenes Gesicht, das an das Aussehen eines Ochsenfrosches erinnerte. Kein Zweifel: Der Professor war schwer erkältet.
»Sir, ich darf Euch melden, dass der Prüfling soeben eingetroffen ist. Er befindet sich bereits im Examiniersaal, wo auch die Herren des
Collegium medicum
schon auf Euch warten.« Der Diener deutete vage hinter sich, um anschließend mit einer dramatischen Geste fortzufahren: »Oh, Sir, bei meiner armen Seele! Wenn ich auch nur geahnt hätte, wie schlecht Euer Befinden heute Morgen ist, hätte ich …«
»Schon gut, lass die Faxen.« Banester stand auf, wickelte sich mit einiger Anstrengung aus dem Tuch und schritt zur Tür. Er war, wenn nicht gerade eine Erkältung sein Gemüt belastete, ein Mann von freundlicher Wesensart. Er hatte einen klaren Verstand und kleine, scharf beobachtende Augen, in denen dann und wann ein guter Schuss Humor aufblitzte. Banester war erst Ende dreißig und hatte trotz seiner verhältnismäßig jungen Jahre schon eine Reihe beachtlicher Erfolge auf dem Gebiet der Cirurgia erzielt. Unter anderem als Dreiundzwanzigjähriger, als er in der englischen Flotte beim Angriff auf Le Havre diente.
In London, diesem Pfuhl der Klatschmäuler und Alleswisser, waren seine Taten seit Jahren in aller Munde, nicht nur bei der Admiralität und im Navy Office, sondern auch im St. Bartholomew’s Hospital und anderen Krankenhäusern – eine Reputation, die letztlich sogar die Königin veranlasst hatte, sich seiner Künste zu versichern.
»Mein Befinden ist in der Tat schlecht, Harvey. Wir schreiben heute den 7. Oktober, und nicht weniger als 1577 Jahre sind seit unseres Heilands Geburt vergangen, doch noch immer hat es die medizinische Wissenschaft nicht verstanden, ein Mittel gegen etwas so Lächerliches wie den Schnupfen zu finden. Dennoch: Eine Absage des Prüfungstermins kommt nicht in Frage, zumal, wie du sagst, Clowes und Woodhall schon eingetroffen sind. Können’s wohl kaum abwarten, die beiden, unsere Aspiranten zu zwiebeln.«
Banester hielt inne, um den ordnungsgemäßen Sitz seiner Kleidung zu überprüfen. Er war nicht eitel, doch legte er Wert auf ein gepflegtes Äußeres. An diesem Tag trug er, einer alten Gewohnheit zufolge, bauschige englische Seemannshosen, die kurz unter dem Knie endeten, dazu ein Hemd mit Spitzenkragen, Weste, Wams und Schnallenschuhe – alles gut sitzend und aus feinsten Materialien zugeschnitten. Und alles, bis auf das weiße Hemd mit Kragen, in glänzendem Schwarz.
Harveys Hände hoben sich, als wollten sie wogende Wellen glätten. »Oh, Sir, mit Verlaub: Wie ich bereits sagte, haben wir es heute Morgen nur mit einem einzigen Examinanden zu tun, sein Name ist, äh … Vitus, glaube ich. Den Nachnamen habe ich vergessen.«
»Richtig, jetzt fällt’s mir wieder ein. Vitus von Campo … Camposowieso. Ich kann mir den Namen nicht merken. Der verdammte Katarrh raubt mir noch den Verstand.« Neben seiner unzweifelhaften Tüchtigkeit hatte der Professor eine weitere lobenswerte Eigenschaft: Er konnte Fehler und Schwächen eingestehen.
Er wandte sich um und schritt zu seinem Arbeitstisch zurück, auf dem neben der Inhalationsschüssel und Stapeln von Papieren ein in kunstvollen Frakturlettern abgefasster Brief lag. Das Schreiben war neun Wochen alt, es datierte vom 2. August, und sein Absender war ein Zisterzienserpater namens Thomas. Banester ergriff den Brief und überflog noch einmal seinen Inhalt. Nach mehreren Seiten, in denen der Absender, der ebenfalls Arzt war, ihn seiner Hochachtung versicherte, sowie ausführlichen Erläuterungen über das Kloster Campodios, welches sich im Nordspanischen befand, war Pater Thomas endlich auf das zu sprechen gekommen, um dessentwillen er den Brief offenbar geschrieben hatte:
… Ich erlaube mir, Sehr Ehrenwerter Professor, Euer Augenmerk auf einen jungen Mann zu lenken, den ich persönlich in der ärztlichen Kunst unterrichtet habe:
Vitus, so sein Name, wurde auf Campodios seit frühester Jugend in den Artes liberales unterwiesen, wobei er sich ein ums andere Mal auszuzeichnen wusste. Seine besondere Passion jedoch gilt einem Fach, welches gemeinhin nicht den Artes liberales zugeordnet wird: Es ist die
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