Der Chirurg von Campodios
klang aufs höchste erschreckt.
»Nanu, was ist daran so schlimm?« Arlette sah auf und erkannte, dass Mbamos Ausruf nicht ihrem letzten Satz gegolten hatte. Er starrte voller Angst nach Norden, wo das dichte Buschwerk den Blick zur Küste verwehrte.
Davor stand ein Indianer.
Arlette stockte der Atem. Noch nie hatte sie einen Wilden leibhaftig zu Gesicht bekommen. Dieser da sah zum Fürchten aus. Er war grell bemalt und bis an die Zähne bewaffnet. Den Flachbogen trug er quer über der Schulter, den Speer hatte er in der Hand, in seinem Gürtel steckte eine Kriegskeule mit messerscharfer Steinklinge. Unwillkürlich ergriff sie Mbamos Hand. »Es ist nur ein einzelner«, versuchte sie sich und den Schwarzen zu beruhigen.
Zwei weitere Indianer traten aus dem Buschwerk hervor.
Arlette spürte, wie auch in ihr die Angst emporkroch. Dann sah sie gleich mehrere Wilde hinter einer Bodenwelle auftauchen. Der Abstand zwischen ihnen und ihr betrug höchstens dreihundert Schritte. Da! Von Westen her kamen weitere Wilde. Und dort! Noch mehr! Wie viele mochten es schon sein? Fünf Dutzend? Sechs Dutzend? Sie hatten einen weiten Halbkreis gebildet und umschlossen die gesamte Stirnseite des Tabakfelds.
Auch die anderen Sklaven hatten die Gefahr bemerkt. Unter großem Geschrei ließen sie alles stehen und liegen und kamen herbeigestürzt, um bei Arlette Schutz zu finden.
Bleib ruhig!, ermahnte sie sich. Gib den Schwarzen ein gutes Beispiel! Ihre Hand tastete zum Gürtel, in dem eine Radschlosspistole steckte. Thomas hatte sie ihr einst gegeben und sie dabei ermahnt, die Waffe stets geladen und gespannt mit sich zu führen. Umständlich hatte er von Federn, Zähnen, Zündkraut und Pyrit geredet, und sie hatte kein Wort verstanden, nur dass sie zum Schießen dreierlei tun musste: den Deckel der Pfanne entfernen, den Hahn absenken und den Abzughebel betätigen. Dann passierte alles gedankenschnell – und dennoch nützte es ihr hier, im Angesicht der zahlreichen Feinde, überhaupt nichts.
Jetzt hob der erste Indianer die Arme und stieß einen lang gezogenen, gutturalen Schrei aus. Das schien das Angriffssignal zu sein. Wie ein Mann liefen alle Krieger auf sie zu.
Arlettes Gedanken rasten. Was konnte sie tun? Sollte sie kämpfen? Zusammen mit den Schwarzen? Nein, die Überlegung war lächerlich. Also Flucht? Ja, aber wohin? Die einzige freie Seite ging nach Süden, ja, nach Süden mussten sie fliehen! Dort befanden sich auch die Hütten der Schwarzen und, noch weiter entfernt, Thomas’ Wohnhaus. »Höre, Mbamo! Du und deine Leute, ihr lauft so schnell ihr könnt zu euren Behausungen. Ich glaube nicht, dass die Wilden es auf euch abgesehen haben, aber verrammelt auf jeden Fall die Türen! Und haltet eure schweren Hacken bereit. Gott sei mit euch!«
»Ja, Ladymissu, ja!« Mbamos Stimme war heiser vor Furcht.
»Ich reite zum Wohnhaus und alarmiere Master Thomas und die anderen. Der Allmächtige gebe, dass wir alle am Leben bleiben!«
Mit katzenhafter Kraft schwang sie sich in den Sattel und galoppierte davon.
Als nach kurzem, scharfem Ritt das Anwesen von Thomas Collincourt in ihr Blickfeld rückte, bot sich Arlette ein Bild voller Frieden. Nur ein Ziegenbock, der in der Nähe des Küchenschuppens angepflockt war, meckerte ein paar Mal. Keine Menschenseele war zu sehen. Doch da: Ein ihr unbekannter Schwarzer eilte über den Hof und schlüpfte durch die niedrige Haustür ins Innere des Gebäudes. Der Schwarze war von riesiger Gestalt, und als er verschwand, blitzte etwas in seiner Hand auf.
Seltsam!, schoss es ihr durch den Kopf, was hat der Kerl dort zu suchen? Doch sie war viel zu aufgeregt, als dass sie lange darüber hätte nachdenken können.
Kurz darauf stand sie selber vor dem Haus. Schon wollte sie die Tür aufstoßen, da meckerte der Ziegenbock erneut. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Was zögerst du?, fragte sie sich. Warum schreist du nicht um Hilfe? Stattdessen machte sie ihre Pistole schussbereit.
Sie holte tief Luft und öffnete die Tür. Drinnen im großen Raum, der dem Hausherrn als Wohn- und Schlafzimmer diente, war es sehr dunkel. Arlette blinzelte, während sie den schweren Eisenriegel vorschob. Thomas hatte wieder einmal die Fensterläden fest verschließen lassen, damit die Gluthitze keinen Einlass fand. Aber wo war Thomas? Er musste im Haus sein; es gab keine andere vernünftige Erklärung. Abermals blinzelte Arlette und blickte suchend in die Runde.
Dann sah sie ihn.
Er lag bäuchlings auf seinem
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