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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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letzten Gruß in den Stein meißeln lassen sollte, aber ihm war kein passender Spruch eingefallen, denn der Schmerz beherrschte alle seine Gedanken. So hatte er schließlich bestimmt, einfach nur Arlettes Namen und ihren Geburts- und Todestag festzuhalten.
    Nachdem der Trauerakt vorüber war, winkte der kleine Gelehrte seinen Freund beiseite.
    Vitus hob die Hand. »Komm mir nicht zu nahe. Vielleicht trage ich das Pestmiasma in mir.«
    »Schon gut. Aber das Leben geht weiter, mein Alter, glaub mir’s. Es wäre nicht in Arlettes Sinne, dass du bis in alle Ewigkeiten den Kopf hängen lässt. Denk nur daran, was für ein fröhlicher, lebensbejahender Mensch sie war.«
    »Ja, das war sie. Sie war wunderbar. Sie ist unersetzlich. Sie war …« Vitus wandte sich ab, denn Tränen schossen ihm in die Augen. »Entschuldige, es tut so weh …« Er stürzte davon.
    An den folgenden Tagen schloss Vitus sich ein, verweigerte Speise und Trank, und die Stimmung im Schloss wurde immer düsterer.
    Wieder stapfte der Magister durch Höfe und Ställe und fragte sich verzweifelt, was um alles in der Welt er tun könne, um die Trauer, die Vitus wie ein Panzer umgab, aufzubrechen. »Was mach ich nur? Was mach ich nur?«, fragte er sich zum tausendsten Mal, und dann, endlich, hatte er einen Einfall, von dem er hoffte, dass er alles zum Guten wenden würde. Fortan sah man ihn häufiger mit einem Fäustel und einem Meißel in der Hand, was zu allerlei Vermutungen und sogar zu Gelächter Anlass gab, doch der kleine Gelehrte ließ sich nicht beirren. Als er seine Arbeit beendet hatte, gelang es ihm tatsächlich, Vitus eines Morgens zu überreden, ihm in die Familiengruft zu folgen.
    »Was soll das alles?«, fragte Vitus müde.
    »Wart’s nur ab. Du wirst an Arlettes Grab eine Botschaft vorfinden.«
    Und so war es. Die Botschaft war in die große Grabplatte, direkt unter Arlettes Namen, eingemeißelt. Sie bestand nur aus drei Worten:
    OMNIA VINCIT AMOR
    »Ich habe die Nachricht selbst hineingeschlagen«, erklärte der Magister und wies mit einer fast entschuldigenden Geste auf sein Werk. In der Tat waren die Buchstaben weder gerade noch gleich groß noch besonders fein herausgearbeitet, dafür aber war der Inhalt der Worte umso eindrucksvoller.
    »Die Liebe besiegt alles«, flüsterte Vitus.
    »Ja, das tut sie«, bestätigte der kleine Mann ernst. »Sie besiegt Hass, Neid und Missgunst, sie überwindet Gewalt und Krieg, sie lässt Tränen trocknen und Trauer versiegen. Damit nicht genug, spendet sie Harmonie und neue Hoffnung – überall auf der Welt. Auch auf Greenvale Castle.« Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Ich war es, der die Botschaft eingemeißelt hat, aber sie ist nicht von mir. Ich habe es für jemanden getan, der es nicht mehr tun konnte: für Arlette. Es ist ihre Botschaft an dich, und es ist ihre Liebe zu dir, die aus den Worten spricht.«
    Vitus’ Hand näherte sich zögernd den ungelenk eingeschlagenen Buchstaben. »Ja, du magst Recht haben«, sagte er schwer. »Die Liebe besiegt alles. Und Arlettes Liebe ist in mir, das spüre ich wohl. Sie wird mich mein ganzes Leben lang begleiten.«
    Der Magister atmete insgeheim auf. Wenn Vitus von »seinem ganzen Leben« sprach, so bedeutete dies immerhin, dass er weiterleben wollte. »Es kommen auch wieder schöne Stunden, bitte, glaub mir.«
    »Ja, vielleicht.« Vitus zog mit dem Finger die rissigen Konturen der Buchstaben nach. »Aber die Pest ist noch unter uns, die Gefahr noch lange nicht gebannt. Gott verfluche sie, denn sie nahm mir das Liebste, was ich auf Erden hatte.«
    »Wenn einer der Pest Herr werden kann, dann bist du es.«
    »Ja, vielleicht«, sagte Vitus abermals. »Vielleicht auch nicht. Ich habe Arlette auf dem Sterbebett versprochen, dass ich die Seuche bekämpfen werde.«
    »Ja, dann tu’s doch!«
    »Ich werde es allein nicht schaffen.«
    »Enano und ich, wir sind an deiner Seite.«
    »Ich werde alles Wissen, das es über die Geißel gibt, sammeln müssen. Alle Erfahrungen, Erkenntnisse, Behandlungsmethoden. Dazu werde ich reisen müssen.«
    »Wir sind an deiner Seite. Wann fahren wir?«
    Vitus lächelte. Es war das erste Mal nach Arlettes Tod, dass sich ein Lächeln auf seine Lippen stahl. Der Magister mit seinem unverbesserlichen Optimismus! Er stellte sich wieder einmal alles einfacher vor, als es in Wirklichkeit war. Nach dem Ausbruch der Pest, so stand es im Werk
De morbis
zu lesen, sollten die Betroffenen siebzig Tage von aller Welt abgeschlossen

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