Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
Frauen verhalten sollst. Sie gehören zu den gröÃten Freuden des Lebens und es ist ganz natürlich, sie zu genieÃen. Aber deine Stellung bedeutet, dass du dich ihnen nicht so frei hingeben kannst wie möglicherweise deine Freunde. Es ist eine Frage von Vererbung und RechtmäÃigkeit. Die Frau, umdie es geht, ist fortgeschickt worden; sollte sie ein Kind empfangen haben, könnte es Probleme geben, vor allem wenn wir nicht wissen, ob du der Vater bist oder Kiyoshige. Zur rechten Zeit werde ich dich mit einer Konkubine versorgen, die allein dir gehört. Am besten wird es sein, keine Kinder mit ihr zu haben. Kinder sollten nur von deiner rechtmäÃigen Ehefrau geboren werden. Eine Ehe wird natürlich arrangiert werden, aber im Moment bist du zu jung und es gibt keine passende Verbindung.«
Sein Ton änderte sich leicht, als er sich vorbeugte und leiser sprach. »Ich muss dir auch raten, dich nicht betören zu lassen. Es gibt nichts Verächtlicheres als einen Mann, der wegen der Liebe zu einer Frau seine Pflicht vernachlässigt, sein Ziel aus den Augen verliert oder sich auf andere Art schwächen lässt. Du bist jung und deshalb sehr anfällig. Sei wachsam. Die meisten Frauen sind anders, als sie erscheinen. Ich werde dir von meiner eigenen Erfahrung erzählen. Ich hoffe, das wird dich davor schützen, den gleichen Fehler zu begehen â einen, der mich mein Leben lang verfolgt hat.«
Shigeru beugte sich ebenfalls vor, damit ihm kein Wort entging.
»Ich war ungefähr in deinem Alter â fünfzehn â, als mir ein Mädchen auffiel, das hier als Dienerin arbeitete. Sie war nicht schön, aber sie hatte etwas an sich, das ich ungeheuer anziehend, fast unwiderstehlich fand. Sie war voller Lebenskraft, anmutig und wirkte sehr selbstbewusst. Immer verhielt sie sich vollkommen ehrerbietig und erledigte ihre Dienste einwandfrei, und doch schien es die ganze Zeit so, als würde sie lachen â über Männer im Allgemeinen, über die Schlossherren, mich eingeschlossen. Sie wusste, was ich für sie empfand â sie war sehr aufgeweckt und aufmerksam: Ich hatte das Gefühl, sie könnte meine Gedanken hören. Eines Nachts, als ich allein war, kam sie zu mir und gab sich mir hin. Wir waren füreinander die erste Liebe. Ich war von ihr besessen, und sie sagte mir oft, dass sie mich liebe. Mein eigener Vater hatte mit mir gesprochen, so wie ich jetzt mit dir, über die Gefahren, mit Dienerinnen zu schlafen, und über die Torheit, sich zu verlieben. Aber ich konnte meine Gefühle nicht bekämpfen. Sie waren stärker als ich.«
Er schwieg und schien in Erinnerungen an seine ferne Jugend zu versinken. »Jedenfalls kam sie eines Tages unerwartet zu mir und sagte, sie müsse mit mir reden. Es war während des Unterrichts. Ich wartete auf einen meiner Lehrer und versuchte sie wegzuschicken. Doch zugleich konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, sie in die Arme zu nehmen. Mein Lehrer kam an die Tür. Ich bat ihn zu warten, sagte, mir sei nicht gut. Ich wollte sie verstecken â aber das war nicht nötig. Sie hatte ihn lange vor mir gehört; es war, als wäre sie verschwunden. Sie war nirgends zu sehen. Nachdem mein Lehrer gegangen war, war sie wieder da. Einen Augenblick war sie nirgendwo, im nächsten stand sie vor mir. Alle Merkwürdigkeiten, die ich über sie wusste, gingen mir durch den Sinn: ihr unnatürlich scharfes Gehör, die seltsamen Linien auf ihren Handflächen, die sie zu halbieren schienen. Ich glaubte auf einmal, meine Betörung zu verstehen: Ganz klar hatte sie mich verhext. Sie musste eine Art Zauberin sein. Mit würgender Angst wurden mir die Risiken klar, die ich eingegangen war. Da sagte sie mir, wer sie war: eine vom Stamm.«
Er unterbrach sich und schaute Shigeru fragend an. »WeiÃt du, was das heiÃt?«
»Ich habe den Namen gehört. Manchmal reden die Jungen über die Menschen vom Stamm.« Er schwieg, dann fügte er hinzu: »Die Leute fürchten sie.«
»Aus gutem Grund. Der Stamm besteht aus mehreren Familien, vier oder fünf vielleicht, die behaupten, sich Fähigkeiten aus der Vergangenheit erhalten zu haben â Talente, die der Kriegerklasse verloren gingen. Ich habe einige dieser Fertigkeiten mit eigenen Augen gesehen und weiÃ, dass es sie tatsächlich gibt. Ich habe gesehen, wie eine Person verschwindet und
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