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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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umkreiste sie die Hänge und kurvte dann über zwei oder drei steile Pässe zurück nach Yamagata. Hier würde Shigeru einige Zeit verbringen und sich die bekannte Stadt neu erobern, bevor er die kurze Reise durch die Berge zum Tempel antrat.
    Kiyoshige sollte ihn nicht begleiten, er kehrte ins Haus seiner Familie zurück. Sein Vater war in einen höheren Rang mit besserer Besoldung befördert worden. Das konnte kaum als Strafe betrachtet werden, doch Shigeru empfand es fast als solche. Ihm fehlte der muntere, ausgelassene Kiyoshige, seine Respektlosigkeit und seine Witze. Während er den Rappen Karasu ritt, vermisste er Kiyoshiges Grauen mit der schwarzen Mähne,Kamome, neben sich. Doch er behielt seine Gefühle für sich. Die Kitanobrüder reisten mit ihm, sie wurden von ihrem Vater nach Tsuwano gerufen. Der plötzliche Befehl erschien den Jungen rätselhaft. Sie hatten erwartet, in Hagi zu bleiben oder mit Shigeru nach Terayama zu gehen. Sie beneideten ihn um die Gelegenheit, von Matsuda Shingen unterrichtet zu werden, und fragten sich, warum ihr Vater ihnen nicht erlaubte, diese Gelegenheit zu ihrem Vorteil zu nutzen.
    Â»Es wäre besser, in Hagi zu bleiben«, sagte Tadao zum vierten oder fünften Mal. »In Tsuwano haben wir keine Lehrer wie Lord Irie oder Lord Miyoshi. Vater ist ein großer Krieger, aber er ist so altmodisch.«
    Die Frühlingsaussaat war beendet und das klare Grün der jungen Sämlinge leuchtete vor der spiegelnden Oberfläche der Reisfelder, die das Bild des Himmels mit den hohen weißen Wolken wiedergab. An einigen Ufern um die Felder waren Bohnen gepflanzt, ihre weißen und violetten Blüten lockten viele Bienen an. Frösche quakten und die Sommerzikaden begannen zu zirpen. Shigeru hätte sich gewünscht, das Land eingehender betrachten und mit den Bauern über ihre Erträge und Methoden reden zu können. Die beiden vergangenen Jahre hatten gute Ernten gebracht – kein Insektenbefall, keine größeren Sturmschäden – und dadurch waren alle guter Dinge, doch Shigeru hätte gern mehr über ihr Leben gewusst. Er kannte die Bauern lediglich als Zahlen aus den Unterlagen des Clans über die erwarteten Erträge ihrer Felder und ihren Steueranteil.
    Die Geheimnisse, die ihm sein Vater anvertraut hatte, gingen ihm nicht aus dem Sinn. Der Gedanke,dass er möglicherweise einen Bruder hatte, so viele Jahre älter als er, quälte und faszinierte ihn. Und die Mutter des Jungen, die Frau vom Stamm, die Zauberin und Gestaltwandlerin! Sein Vater hatte eine solche Frau getroffen, hatte mit ihr geschlafen. Die Vorstellung entsetzte und erregte ihn zugleich. Er sann über das Leben seines Vaters nach und sah seine Schwächen deutlicher. Er fragte sich auch, wie viele unter den Reitknechten, die sie jetzt auf der Reise begleiteten, oder den Bediensteten in den Gasthäusern Angehörige des Stamms, Spione oder Attentäter sein könnten. Diese Gedanken teilte er mit niemandem, doch er beschloss, während seines Aufenthalts in Terayama Matsuda Shingen zu befragen. Er hatte wenig Lust, den anderen Jungen bei ihrem Klatsch und ihren Klagen zuzuhören, er hatte zu viel zu überdenken, doch er zwang sich, leichthin mit ihnen zu scherzen und seine Gedanken zu verbergen. Dabei stellte er fest, dass er zwei Personen zugleich sein konnte: der normale Fünfzehnjährige und zugleich ein altersloser Mann, der weit aufmerksamer und vorsichtiger war, sein kommendes erwachsenes Ich.
    Am Nachmittag des zweiten Tages stiegen sie durch den Pass in ein fruchtbares Tal hinab, das einem anderen Zweig der Otorifamilie gehörte, entfernten Cousins von Shigeru. Obwohl diese Familie von sehr hohem Rang war, hatte sie immer lieber selbst ihr Land bebaut, als Steuern von Pächtern zu beziehen. Shigeru war begeistert von ihrem Wohnsitz, der die zurückhaltende Eleganz der Kriegerklasse mit rustikaler Ungezwungenheit verband, und beeindruckt von dem Hausherrn Otori Eijiro, der anscheinend unerschöpfliche Kenntnisse über die Eigenschaften des Landes und seiner Feldfrüchte hatte. Die Familie war groß und ausgelassen, doch bei dieser Gelegenheit etwas gebändigt durch den Rang ihres Gastes und seiner Gefährten.
    Nachdem sich die Gäste den Reisestaub von Füßen und Händen gewaschen hatten, saßen sie im Hauptraum, alle Türen waren für die leichte Brise aus dem Süden geöffnet.

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