Der Clan der Wölfe 2: Schattenkrieger (German Edition)
zum Raghnaid zu gehen?“, fragte eine kleine graue Wölfin.
„Bist du cag mag , oder was? Wer eine Grizzlybärin als Milchmutter hatte, fürchtet sich doch nicht vor dem Raghnaid “, sagte der neugierige Rostrote, der immer noch am Boden kauerte.
Aber das war ein Irrtum. Faolans Magen krampfte sich zusammen vor Angst. Nur fürchtete er weniger den Raghnaid als die Schande, vor Duncan MacDuncan treten zu müssen.
Die kleine Welpenschar langweilte sich bald und purzelte davon, um sich auf einem kahlen Erdfleck zu balgen. Zwei neue Welpen waren aus dem Bau ihrer Eltern geschlüpft und wollten sich ins Gewühle stürzen. Doch im nächsten Moment schossen ihre Mütter heraus, versetzten ihnen einen Hieb, dass sie in die Luft flogen, und knurrten sie an. Kleinlaut folgten ihnen die Welpen in den Bau zurück.
Plötzlich fiel ein Mondstrahl herab und riss eine andere Wölfin mit ihren zwei Jungen aus dem Dunkel. Ihr Fell war silbergrau, fast wie das von Faolan, und der Anblick gab ihm einen Stich ins Herz. Unwillkürlich stellte er sich vor, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn er mit vier gesunden Pfoten auf die Welt gekommen wäre. Wenn er eine Wolfsmutter, einen Wolfsvater und Wolfsgeschwister gehabt hätte, die mit ihm im Mondlicht gespielt, ihn geknufft, mit ihm geschimpft und ihn in einen gemütlichen Familienbau zurückgescheucht hätten.
Dann kam ein hochrangiger Wolf auf ihn zu und riss ihn aus seinen Gedanken. Stöhnend sank Faolan wieder in die Knie, aber er wollte sein Gesicht nicht in die Erde pressen. Stattdessen wälzte er sich auf die andere Seite und blickte zu den Sternen auf. Ein paar wirbelnde Wolken verdeckten den Mond. Die Wolken glitten rasch weiter, doch eine Sekunde lang sahen sie wie die spiralförmigen Linien an Faolans Fußpolster aus. Warum war der gelbe Wolf vor dieser Zeichnung so zurückgeschreckt? Heep hatte ihn nicht gebissen, weil er sich gefürchtet hatte. Ganz anders als Faolan, dem diese Linien seltsam tröstlich erschienen waren, als er sie zum ersten Mal bemerkt hatte.
„Hoch mit dir, Knochennager“, knurrte der Wolf, der wohl einer der Rudelältesten war. „Duncan MacDuncan ist jetzt bereit, dich zu empfangen. Und wehe, du zeigst ihm nicht die gebührende Achtung und den Gehorsam, den du ihm schuldest. Unser Oberhaupt liegt im Sterben. Umso wichtiger ist es, die Unterwerfungsrituale hochzuhalten. Also, keine Unverschämtheiten, wie du sie beim Byrrgis an den Tag gelegt hast, Hundesohn. Bist du bereit?“
„Ja“, sagte Faolan fügsam und stand auf, um dem Rudelältesten zu folgen. Er hielt den Schwanz sorgfältig eingeklemmt und legte die Ohren flach an den Kopf, obwohl er schrecklichen Juckreiz davon bekam.
Die Höhle des Oberhaupts war riesig und in der Mitte klaffte eine Grube, in der ein Feuer brannte. An den Wänden hingen geschabte Häute sowie eine Reihe von Geweihen und Hörnern, die alle mit kunstvollen Schnitzereien verziert waren und von Hirschen, Rentieren und Moschusochsen stammten. Faolan hielt die Augen gesenkt, doch sein Blick wurde immer wieder von den Flammen angezogen.
Die Clanältesten, die den Raghnaid abhielten, trugen ihren zeremoniellen Kopf- und Halsschmuck aus geschnitzten Knochen. In der Höhle war es totenstill. Nur das Knacken und Knistern des Feuers drang an Faolans Ohren. Lange Zeit fiel kein Wort. Aber als Faolan aufblickte, sah er etwas, das er nicht in den Augen dieser Wölfe erwartet hatte – Angst. Glaubten die im Ernst, dass er die Mondfäule hatte?
Das greise Oberhaupt Duncan MacDuncan ruhte auf dem Fell eines Elchbullen. MacDuncans Fellhaar war einst dunkelgrau gewesen, mit den Jahren jedoch fast weiß geworden. Die kahlen Stellen an den Schultern waren mit Narben aus längst vergangenen Kämpfen bedeckt und seine Augen schimmerten milchig grün. Faolan musste dabei an die Wildbäche denken, die von den Gletschern im Hochland herabstürzten. In einem von MacDuncans Ohren klaffte ein Riss – wahrscheinlich war es von einem Puma zerfetzt worden.
Hinter dem greisen Oberhaupt ragten zwei Rentier-Geweihstangen aus dem Dunkel der Höhle – die größten, die Faolan je gesehen hatte. An MacDuncans Seite ruhte mit hoch erhobenem Kopf eine vornehme Wölfin. Das war Cathmor, seine Gefährtin. Ihr dunkelgraues Fell wirkte fast schwarz und ihre Augen schimmerten in einem herrlichen Grünton. Die Farbe erinnerte Faolan an die bemoosten Felsen in dem Bach, in dem er mit Donnerherz einen Sommer lang gefischt hatte – ihrem
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