Der Clown ohne Ort
musstest Blättchen holen im Spätkauf gegenüber. Also schwer aufgeregt mit gesenktem Blick wieder an ihrem Tisch vorbei, raus aus dem Keller. Beim Überqueren der Straße wurdest du von einer Déjà-vécu-Welle überrollt, das Unterbewusstsein fuhr dir als flirrende Hitzewelle wie ein D-Zug in die Glieder. Vollverpeilt hattest du lange statt kurzer Blättchen gekauft. Als du die Treppe wieder hinabstiegst, fühlte sich dein Körper wie fünf Tage zuvor an, als die Bilderflut in dich schwappte, durch die Augenhöhlen das Gehirn versengte, dich erste Ahnungen des Scheiterns zerlegten und du hyperventilierend in Ohnmacht fielst. Die kälteste Nacht des Jahres war das gewesen. Du hattest den ganzen Tag nichts gegessen, nur geraucht hattest du, warst dann bei minus zwanzig Grad zwei Stunden durch die Stadt gestreift, Einsicht, letzter Tropfen, Hormonschübe, Flattern, du kanntest das jetzt; noch Zeit, dich zu setzen, du schwebtest im feuchtheißen Äther, Schweißflecken, dein T-Shirt ein klirrendes Formenspiel. Dein zweiter LSD-Flashback.
Naïn sitzt neben B auf dem Fernsehsofa. Grelles Nebellicht dringt scharf durch vorhanglose Fenster. Ihm ist langweilig. Er geht in die Küche, schnappt sich eine Tasse, stellt sie unter die beiden Nippel der Kaffeemaschine und drückt zwei Knöpfe, Maschineneuter, denkt er, es mahlt und zischt. Der Espresso schmeckt besser als erwartet.
den kopf in wolken
ich baue sandwälle
in die zeit
gen sonne fliege ich
Zeit ist ein Moment im Leben. Er geht zurück und lässt sich wieder neben B ins Sofa fallen. »Was guckst du?«
»’ne One-shot-Doku aus Priština. Ein alter Punkmusiker erzählt von der kulturellen Bedeutung des Flusses, der unter der Straße fließt«, sagt sie. Naïn läuft eine Weile mit, die Autos groß und deutsch, die Häuser alt und dreckig. Er steht wieder auf, geht in die Küche und drückt zwei Knöpfe. Im Regal nach Zimt stöbernd kommt er wieder zu sich.
Millionen Gewürzpartikel verteilen sich wie Sterne auf der schwarzen Scheibe, ersaufen dumpf, weben dichter in den Film, Elefanten fliegen nicht, schweben schon, tauchen sowieso und träumen, in Spiegeln schwebend, träumend ertrinken. Du sollst auch traurig sein. Er hat Lust zu ficken. Er lässt die Tasse stehen und setzt sich zu B. Der Spitzensaum ihres Negligés weit hochgezogen, Lichtspiele auf ihren Beinen, Terra, Gletscherblau. Seine Hand schwimmt hoch. Erst kalt, dann warm, heiß fast, sie ist frisch rasiert. Er schiebt die Boxershorts beiseite. Die Beine zieht sie an, die Wangen sengen, leicht ausgestellt die Lippen, der Mund fester als die Lunge, Puls und Atem, er schließt die Augen, aufs Wesentliche beschränken, reines Gefühl, glaubt sich in Liebe, es spannt und löst, die Nase streicht die Ohrenkante entlang, weich, zart, fest, kühl, der blonde Haarschleier riecht nach W. Im Beobachten und Ignorieren Meister sein. Sie reckt den Hals, Hingabe, nicht opfern will ich dich, er beißt unter den Haaransatz, sie streckt sich weg, ihm entgegen, der intensivste Moment ist das, »Ich will ein Kind von dir«, sagt sie, er Pfeil, sie Bogen, ein Schauer verlustigt ihm das Hirn, er krault ihren Nacken, öffnet die Augen, sie schaut ihn an, tief, verletzlich, feste Überzeugung meint er. »Das ist mein Ernst«, sagt sie, und er: »Was?«, und sie: »Mach weiter.« Er stößt fester, tiefer, besser als je zuvor fühlt sich das an, so oft, ein Wallen, der Bauch verkrampft, in einem tiefen Stöhnen fließt sein Körper gen Erlösung.
»Das war das … alles okay?« Eine Träne flieht auf ihre Schläfe, sie dreht den Kopf weiter weg. »Du hast das wirklich ernst gemeint?«, und sie: schweigt, ganz weit weg ist sie, wieder ganz weit weg bei sich. Sie dreht ihren Kopf zurück, ein scheues Lächeln: »Was denn?«
»Na das mit dem Kind!«
»Natürlich nicht! Hast du ’nen Knall?«
»Du nimmst doch die Pille!?« Und sie: »Klar!« Im Fernsehen weiß auf schwarzem Hintergrund: PLAY und MENU.
»Wohin denn?«
»Kein Plan. Raus, mich bewegen.«
»Zu viel Kaffee, was? Komm mit.«
Er folgt B in die Ankleide. Sie reicht ihm einen nachtblauen Kordanzug ihres Vaters und ein weißes, weit geschnittenes T-Shirt. Nikki nannte sie es. Als hülfe ostlern beim Einheimischwerden.
»Na, dacht ich’s mir doch!«, sagt sie. Der Anzug passt überraschend gut. Sie reicht ihm noch ein Paar fliederfarbene Socken und einen taubenblauen Wollschal. Jacke und Schuhe holt sie aus dem Zimmer ihres Bruders. Waise Schwester … jetzt
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