Der Clown ohne Ort
sein Mobiltelefon wach. Schon lange nicht mehr so fit gefühlt, denkt er tief gähnend.
Um 17:12 Uhr piepst ihn sein Mobiltelefon wach. Schon lange nicht mehr so fit gefühlt, denkt er tief gähnend.
Um 17:22 Uhr piepst ihn sein Mobiltelefon wach. Schon lange nicht mehr so fit gefühlt, denkt er tief gähnend.
Um 18:24 weckt ihn ein Erdbeben mittlerer Stärke – sein Mobiltelefon vibriert und klimpert auf dem Fensterbrett mit einem Glas um die Wette. Er geht ran. »Mmh …!?«
»Endlich, verdammt, wo bleibst du denn? Wir kriegen die Bühne nicht eingerichtet, wenn du in zehn Minuten nicht da bist – pennst du?«
»Mmh?«
»Man, Naïn, krieg deinen Arsch hoch, die Schauspieler werden schon nervös.«
»Hm, bin ja gleich da.«
Bo hatte aufgeregt geklungen. Zum Glück ist er noch angezogen. Also langsam rein in die Schuhe, ins Bad vor die Schüssel stolpern, noch mal auspacken, pissen, schütteln, einpacken, kurzer Blick in den Badezimmerspiegel, Kreislaufschwäche durchatmen; schwer verquollenes Gesicht mit kaltem Wasser waschen und dann wieder fünf Stockwerke runterwanken. Fahrrad aufschließen, sich draufsetzen und in Richtung Bode-Museum rasen. Etwa zwanzig Minuten nach dem Anruf steht er atemlos hinter der Bühne. Er ist mehr als eine Stunde zu spät, er erntet verständnisfaule, konzentriert entfernte Blicke. Naïn geht seiner Arbeit nach, als sei nichts passiert, lose großen Prosecco auf Eis trinken, aufdrehen.
Anfang April hatten die Proben begonnen. Die Arbeit macht ihm Spaß. Mehr, als er dachte. Er ist Mädchen für alles, eigentlich Regie- und Produktionsassistent, seines furchtbaren Schriftbildes wegen spielt er meist Letzteres. Er muss Getränke und Essen holen, dann wieder Requisiten reparieren, einkaufen, wegbringen oder bestellen, die Gewerke koordinieren, die Truppe fahren und den Regisseur trösten. Es gibt immer genug Alkohol, und keiner hat wirklich ein Problem damit, wenn man zugeraucht mit einer grünen Wollmütze zur Arbeit kommt. In Bo hat er einen angenehmen Arbeitskollegen: Südtiroler, schwul und Punk, keiner der abgefuckten No-Future -Typen allerdings, eher post in seiner Ausgeglichenheit, die sich darin äußert, dass er immer pünktlich und wesentlich besser organisiert ist als Naïn. Zwar ist das Gesicht mit Piercings übersät, die Klamotten zerrissen und vernietet, mit einem starken Einschlag ins Rot-Schwarze wie gewöhnlich, aber er ist immer wie frisch aus dem Ei gepellt gestylt. Er ist der Musik wegen in Berlin. Grizou heißt die Band. Sie spielen Lieder wie Hängematte rulez oder Im Flammenmeer tanzt Regen , sind gesignt und haben auch schon drei bis vier Auftritte pro Monat. Es scheint nicht schlecht zu laufen.
Naïn und Bo ergänzen sich. Bo übernimmt die routinemäßigen Aufgaben. Naïn ist zur Stelle, wenn es irgendwo brennt oder improvisiert werden muss, was eigentlich immer der Fall ist. Sie müssen sogar mitspielen: beim Eingebildeten Kranken in Unterhosen hinter einer halbtransparenten Operafolie stehend, mit gespreizten Armen und Beinen in der Haltung des vitruvianischen Menschen, während der andere das Schattenbild mit Operationsbesteck bearbeitet, später dann, als Tod verkleidet, in einer Traumsequenz Argans. Die Sicht in dem Kostüm ist so schlecht, dass Naïn drei Aufführungen braucht, um an der richtigen Stelle stehen zu bleiben. Bei der Premiere hatte er bekifft eine halbe Szene zu lang auf den Planken gestanden, da war Argan schon längst aus seinem Alptraum erwacht und musste den Gevatter selbst von der Bühne schieben.
Das Theater liegt gegenüber vom Bode-Museum. Dazu gehören noch zwei Bars, ein Ballhaus und ein Café-Bar-Restaurant, das Altes Europa heißt. Deren Betreiber ist gleichzeitig auch Produzent, Intendant, Freizeitschauspieler des Theaters und Münchner. Der Rest der Truppe fast alle Ostberliner, die Mitgründer Jan, Mahayana-Buddhist und Produktionschef, und Roger, der Regisseur, beide waren noch Anfang der neunziger Jahre Anführer eines besetzten Hauses und Straßenkämpfer gewesen. Vor diesen wilden Zeiten, in den letzten Atemzügen des Real Existierenden, hatte Roger Regie an der Ernst-Busch studiert, »um dem System schön die Fresse zu polieren«. Da ward der Freund zum Feind. Sie spielten – von wenigen Ausnahmen abgesehen – Shakespeare. Dann und wann mal Molière oder Goldoni, in dieser Spielzeit zum ersten Mal alle drei: Der Widerspenstigen Zähmung , Der eingebildete Kranke und Der Diener zweier Herren , Letztere
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