Der Codex
darauf erreichten sie die Lichtung und machten einen Schritt um den Baum herum.
Was sie sahen, war ein menschliches Wrack. Der Mann lehnte mit dem Rücken an dem Baum, hielt eine Bruyere-Pfeife zwischen den Zähnen und musterte die beiden mit festem Blick. Seine Haut war fast schwarz, aber ein Indianer war er wohl nicht. Seine Kleidung bestand nur noch aus Fetzen, sein Gesicht war zerkratzt und blutig von Insekte n stichen. Seine nackten Füße waren zerschnitten und g e schwollen. Er war so dünn, dass ihm die Knochen auf gr o teske Weise aus dem Leib hervorstachen. Sein Haar war strähnig. Er hatte einen kurzen Bart voller Reisigstückchen und Blätter.
Als Tom und Vernon auftauchten, zeigte er keine Reakt i on. Er schaute nur aus tief in den Höhlen liegenden Augen zu ihnen auf. Er wirkte eher tot als lebendig. Dann zuckte er zusammen, als müsse er sich schütteln. Er nahm die Pfe i fe aus dem Mund und sprach. Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern.
»Wie geht's, Brüder?«
41
Tom war so überrascht, die Stimme seines Bruders Philip aus dieser lebenden Leiche zu hören, dass er zusamme n zuckte. Er bückte sich, um sich das Gesicht des Mannes g e nauer anzusehen, doch er fand keine Spur von Ähnlichkeit mit Philip. Von Grauen geschüttelt wich er zurück. In einer Wunde am Hals seines Gegenübers wanden sich Maden.
»Philip?«, hauchte Vernon.
Die Stimme krächzte eine Bestätigung.
»Was machst du hier?«
»Ich sterbe.« Philip vermittelte Fakten.
Tom kniete sich hin, um das Gesicht seines Bruders g e nauer zu mustern. Er war noch immer zu entsetzt, um e t was zu sagen oder eine Reaktion zu zeigen. Er legte Philip eine Hand auf die knochige Schulter. »Was ist passiert?«
Philip schloss einen Moment die Augen, dann öffnete er sie wieder. »Später.«
»Natürlich. Was habe ich nur im Kopf?« Tom wandte sich an Vernon. »Geh zu Don Alfonso und Sally. Sag ihnen, dass wir Philip gefunden haben und hier ein Lager aufschlagen.«
Tom musterte seinen Bruder erneut. Er war zu erschüttert, um etwas zu sagen. Philip war so eigenartig gelassen ... Hatte er sich etwa schon mit seinem Tod abgefunden? Es war unnatürlich. In seinem Blick lag abgeklärte Gleichgü l tigkeit.
Dann tauchte Don Alfonso auf. Nachdem er nun wusste,
dass der Flussdämon ein Mensch war, hackte er ein Stück Boden frei, um das Lager aufzuschlagen.
Als Philip Sally erblickte, nahm er die Pfeife aus dem Mund und blinzelte.
»Ich bin Sally Colorado.« Sally ergriff seine Hand.
Philip gelang ein Nicken.
»Wir müssen Sie säubern und verarzten.«
»Danke.«
Sie trugen Philip zum Fluss, legten ihn auf einen Stapel Bananenblätter und zogen ihn aus. Alles war voller wunder Stellen. Viele waren infiziert und von Maden befallen. Die Maden - das wurde Tom klar, als er die Wunden untersuchte - waren anfangs ein Segen gewesen, denn sie hatten das septische Gewebe verzehrt und die Gefahr eines Wundbrands verringert. In einigen Wunden, in denen die Maden tätig gewesen waren, hatte sich schon frisches Granulat i onsgewebe gebildet. Andere sahen weniger gut aus.
Tom betrachtete seinen Bruder mit einem mulmigen Gefühl. Sie hatten keine Medikamente, keine Antibiotika, ke i ne Verbände, sondern nur Sallys Kräuter. Sie wuschen Phi l ip vorsichtig ab, dann trugen sie ihn auf die Lichtung z u rück, wo sie ihn splitternackt neben dem Feuer auf einen Stapel Palmwedel betteten.
Sally sortierte die unterwegs gesammelten Kräuter und Wurzeln.
»Sally ist Kräuterheilerin«, erklärte Vernon.
»Ich hätte lieber 'ne Amoxycillin-Spritze«, sagte Philip.
»Wir haben keine.«
Philip legte sich auf die Blätter zurück und schloss die Augen. Tom verarztete seine wunden Stellen, kratzte das brandige Fleisch heraus und spülte die Maden ab. Sally bestäubte die Wunden mit einem Kräuterantibiotikum und verband sie mit Streifen aus zerstampfter Rinde, die sie zuvor in kochendem Wasser sterilisiert und im Feuer rauchgetrocknet hatte. Sie wuschen und trockneten Philips zerfetzte Kleidung und zogen sie ihm wieder an, da er ja nichts a n deres hatte. Als die Sonne unterging, waren sie fertig. Sie setzten Philip aufrecht hin. Sally brachte ihm einen Becher Kräutertee.
Philip nahm ihn an sich. Er sah schon besser aus. »Drehen Sie sich mal um, Sally«, sagte er. »Ich würde gern mal Ihre Schwingen sehen.«
Sally errötete.
Philip trank einen Schluck, dann noch einen. Don Alfonso hatte inzwischen ein halbes Dutzend Fische geangelt und
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