Der Codex
Kopfschuss verpasst. Nun wusste ich, dass seine Le u te zwei Menschen auf dem Gewissen hatten. Ich war mir sicher, dass einer von euch tot war - wenn nicht gar alle beide. Eines muss ich euch ehrlich sagen, Jungs: Als ihr plötzlich vor mir gestanden seid, da glaubte ich, ich wäre tot und in der Hölle gelandet. Ich dachte, ihr wärt das Em p fangskomitee.« Er stieß ein kurzes, trockenes Lachen aus. »Wir haben die Boote an den Wasserfällen zurückgelassen und sind Vaters Fährte zu Fuß gefolgt. Dieser Hauser kön n te eine Maus im Dschungel aufspüren,
wenn er es wollte. Ich musste bei ihm bleiben, weil ihm die Idee gekommen war, er könnte mich als Druckmittel gegen euch verwenden. Dann ist er einer Gruppe Bergindianer begegnet, hat mehrere getötet und den Rest in ihr Dorf z u rückgejagt. Anschließend hat er das Dorf angegriffen und den Häuptling gefangen genommen. Ich hab zwar nichts davon gesehen, weil ich hinter der Front gefesselt war, aber ich kenne das Ergebnis.«
Er schüttelte sich. »Nachdem er den Häuptling als Geisel hatte, sind wir in die Berge raufgestiegen, zur Weißen Stadt.«
»Hauser weiß, dass es die Weiße Stadt ist?«
»Er hat es von einem indianischen Gefangenen erfahren. Aber er kennt ihre Lage nicht. Offenbar wissen nur der Häuptling und einige Älteste, wo genau die Grabkammer sich befindet.«
»Und wie bist du entkommen?«, fragte Tom.
Philip schloss die Augen. »Die Entführung des Häuptlings hat die Indianer gewaltig gegen ihn aufgebracht. Sie haben Hauser auf dem Weg zur Weißen Stadt angegriffen. Trotz ihrer schweren Waffen hatten Hauser und seine Leute ke i nen leichten Stand. Er hatte mir die Ketten abgenommen, um den Häuptling zu fesseln. Als der Kampf dann seinen Höhepunkt erreichte, ist mir die Flucht geglückt. Ich war zehn Tage zu Fuß unterwegs ... das heißt, eigentlich bin ich eher gekrochen. Ich habe mich von Insekten und Eidechsen ernährt. Vor drei Tagen erreichte ich diesen Fluss. Ich wus s te nicht, wie ich rüberkommen sollte. Ich stand vor dem Verhungern und konnte nicht mehr gehen. Also hab ich mich unter den Baum gesetzt und aufs Ende gewartet.«
»Du hast drei Tage lang unter dem Baum gesessen?«
»Drei oder vier Tage. Nur Gott allein weiß es. Ich war völlig durcheinander.«
»Mein Gott, Philip, wie furchtbar.«
»Ganz im Gegenteil. Es war ein erfrischendes Gefühl. Weil ich mir nämlich über nichts mehr Sorgen zu machen brauchte. Mich hat überhaupt nichts mehr interessiert. Ich hab mich nie im Leben so frei gefühlt wie unter diesem Baum. Ich glaube, hin und wieder war ich sogar glücklich.«
Das Feuer war heruntergebrannt. Tom warf noch ein paar Äste hinein und erweckte es zu neuem Leben.
»Hast du die Weiße Stadt gesehen?«, fragte Vernon.
»Ich bin entwischt, bevor wir sie erreicht haben.«
»Wie weit ist es von hier zur Sierra Azul?«
»Ungefähr fünfzehn Kilometer bis zum Vorgebirge, dann noch mal fünfzehn oder zwanzig zur Stadt.«
Schweigen. Das Feuer knisterte und knackte. In einem fernen Baum sang ein Vogel ein klagendes Lied. Philip schloss die Augen und murmelte voller Ironie: »Lieber alter Vater, was hast du deinen dich liebenden Kindern doch für ein schönes Erbe hinterlassen.«
43
Der Tempel war unter Lianen vergraben. Der vordere Sä u lengang wurde von rechteckigen Kalksteinsäulen getragen, auf denen grünes Moos wuchs. Sie hielten einen Teil des steinernen Daches aufrecht. Hauser stand davor und musterte die eigenartigen, in die Säulen gehauenen Hierogl y phen, Fratzen, Tiere, Punkte und Striche. Sie erinnerten ihn an den Codex.
»Bleibt draußen«, sagte er zu seinen Männern und schlug ein Loch in die wild wuchernden Pflanzen. Es war finster. Hauser leuchtete mit der Taschenlampe um sich. Er sah weder Schlangen noch Jaguare; in einer Ecke hockte nur ein Haufen Spinnen. Ein paar Mäuse ergriffen die Flucht. Der Raum war trocken und überdacht - ein geeigneter Ort, um das Hauptquartier aufzuschlagen.
Hauser schlenderte tiefer in den Tempel hinein. Am anderen Ende ragte noch eine Reihe quadratischer Säulen auf. Sie rahmten einen verfallenen Türrahmen ein, der auf einen düsteren Hinterhof führte. Er trat ins Freie. Ein paar Stat u en lagen am Boden herum. Der Zahn der Zeit hatte ihnen heftig zugesetzt, und sie waren nass vom Regen. Riesige Baumwurzeln schlängelten sich wie dicke Anakondas über das Gestein. Sie hatten Wände und Dächer durchbrochen, bis auch die Bäume zu einem integralen
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