Der Codex
grillte sie an einem Spieß über dem Feuer. Der Geruch we h te zu ihnen herüber.
»Komisch, dass ich keinen Appetit habe«, meinte Philip.
»Wenn man verhungert, ist das nicht ungewöhnlich«, erklärte Tom.
Don Alfonso servierte den Fisch auf Blättern. Sie verzehrten schweigend ihre Mahlzeit, dann ergriff Philip das Wort.
»Tja, jetzt sind wir also hier. Ein kleines Familientreffen im Urwald von Honduras.« Er schaute sich um, seine Augen funkelten. Dann sagte er: »G.«
Stille. Dann sagte Vernon: »E.«
»I«, sagte Tom.
»S«, sagte Philip.
Eine noch längere Stille, dann sagte Vernon: »T, verdammt noch mal.«
»Vernon muss das Geschirr spülen!«, krähte Philip.
Tom wandte sich zu Sally um, um ihr zu erklären, was da ablief: »Das Spiel haben wir früher immer gespielt«, sagte er mit einem verlegenen Lächeln.
»Ich schätze, ihr seid wirklich Brüder.«
»Sozusagen«, sagte Vernon. »Auch wenn Philip ein Esel ist.«
Philip lachte schallend. »Der arme Vernon. Du hast aber auch immer Küchendienst, nicht wahr?«
»Freut mich zu sehen, dass es dir besser geht«, sagte Tom.
Philips hohlwangiges Gesicht wandte sich ihm zu. »Es geht mir wirklich besser.«
»Geht's dir gut genug, um uns zu erzählen, was passiert ist?«
Philips Miene wurde wieder ernst und verlor jegliche Blasiertheit. »Es ist 'ne Geschichte wie Herz der Finsternis von Joseph Conrad, in der auch ein Mistah Kurz vorkommt. Möchtet ihr sie auch ganz bestimmt hören?«
»Ja«, sagte Tom. »Wir möchten sie hören.«
42
Philip stopfte seine Pfeife sorgfältig mit Dunhill-Early-Morning-Tabak. Seine Bewegungen waren langsam und übe r legt. »Das Einzige, das sie mir - Gott sei Dank - nicht we g genommen haben, ist meine Pfeife.« Er paffte langsam. Se i ne Augen waren halb geschlossen. Er überlegte.
Tom nutzte die Gelegenheit, um Philips Gesicht zu b e trachten. Nun, da es sauber war, erkannte er die aristokr a tisch schmalen Züge seines Bruders wieder. Der Bart ve r lieh ihm etwas Vulgäres und ließ ihn eigenartigerweise i h rem Vater ähneln. Doch sein Gesicht wirkte anders: Seinem Bruder war irgendetwas zugestoßen; etwas so Grässliches, dass es seine Züge grundlegend verändert hatte.
Als Philip den Pfeifentabak angezündet hatte, öffnete er die Augen und begann zu erzählen.
»Nachdem ich euch verlassen hatte, flog ich wieder nach New York und suchte Vaters alten Partner Marcus Aurelius Hauser auf. Ich hatte mir vorgestellt, er wüsste vielleicht besser als jeder andere, wohin Vater gegangen sein könnte. Hauser ist zufällig Privatdetektiv und für meinen G e schmack ein zu pummeliger und zu parfümierter Bursche. Er fand mit zwei schnellen Telefongesprächen heraus, dass Vater nach Honduras gegangen war; also hielt ich ihn für kompetent und engagierte ihn. Wir flogen nach Honduras. Er organisierte eine Expedition, heuerte ein Dutzend Sold a ten an und besorgte vier Boote. Er hat alles finanziert, i n dem er mich zwang, das schöne kleine Gemälde von Paul Klee zu verkaufen, das Vater mir einmal geschenkt hat ...«
»Ach, Philip«, warf Vernon ein, »wie konntest du nur!«
Philip schloss müde die Augen. Vernon verfiel in Schweigen. Dann fuhr Philip fort. »Wir sind also nach Brus geflogen, haben uns in Einbäume gezwängt und sind fröhlich flussaufwärts gestakt. In irgendeinem Hinterwäldlerkaff haben wir einen Führer engagiert und den Meambar-Sumpf durchquert. Dann hat Hauser einen Coup gelandet. Der pomadisierte Sack hatte es die ganze Zeit geplant - er ist einer von diesen bösartigen Kryptofaschisten. Sie haben mich wie einen Hund angekettet. Hauser hat unseren Führer an die Pirañas verfüttert und dann einen Hinterhalt gelegt, um euch umzubringen.«
Nun geriet er ins Stocken. Er zog mehrmals an der Pfeife, und seine knochige Hand zitterte. Philip erzählte seine Geschichte mit einer humorvollen Tapferkeit, die nur gespielt war. Tom wusste, dass diese Art für seinen Bruder typisch war.
»Als sie mich in Eisen gelegt hatten, ließ Hauser fünf Kommissköpfe an der Schwarzen Lagune zurück. Sie sol l ten euch umlegen. Mich und die anderen Soldaten nahm er mit den Macaturi hinauf, zu den Wasserfällen. Ich werde den Tag nie vergessen, an dem das Kommando zurüc k kehrte. Es waren nur noch drei Mann, und im Oberschenkel des einen steckte ein meterlanger Pfeil. Ich hab nicht alles gehört, was sie gesagt haben. Hauser war wütend. Er hat den Mann beiseite genommen und ihm aus nächster Nähe einen
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