Der Codex
habe mich und meine Sammlung in einer Grabkammer bestatten lassen. Sie ist irgendwo auf der Welt versteckt - an einem nur mir bekannten Ort.
Er hielt inne, räusperte sich noch einmal, schaute kurz mit seinen blitzenden blauen Augen auf und las weiter. Seine Stimme hatte nun den leicht pedantischen Tonfall, an den Tom sich von den Tischgesprächen noch so gut erinnerte.
Seit über hunderttausend Jahren haben sich Menschen zusammen mit ihren kostbarsten Besitztümern bestatten lassen. Die Besta t tung von Toten mitsamt ihren Schätzen hat eine ehrwürdige G e schichte und reicht von den Neandertalern über die alten Ägypter bis fast in die Gegenwart. Menschen haben sich mit ihrem Gold und Silber, mit Kunstwerken, Büchern, Medizin, Möbeln, Skl a ven, Pferden und manchmal sogar mit ihren Konkubinen und Ehefrauen begraben lassen. Sie haben alles mitgenommen, von dem sie glaubten, es könne ihnen im jenseits nützlich sein. Erst in den letzten beiden Jahrhunderten hat man aufgehört, sterbliche Überreste mit Grabbeigaben zu bestatten, und somit eine alte Tradition gebrochen.
Ich möchte diese Tradition gern neu aufleben lassen.
Es ist eine Tatsache, dass fast alle unsere Kenntnisse über die Vergangenheit aus Grabbeigaben stammen. Einige Menschen haben mich als Grabräuber bezeichnet. Stimmt nicht. Ich bin kein Räuber, sondern Wiederverwerter. Ich bin durch den Reichtum, den törichte Menschen mit ins jenseits genommen haben, zu e i nem Vermögen gelangt. Ich habe beschlossen, das Gleiche zu tun wie sie und mich mit meinem ganzen weltlichen Hab und Gut bestatten zu lassen. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und mir besteht darin, dass ich kein Trottel bin. Ich weiß, dass es kein jenseits gibt, in dem ich meinen Wohlstand genießen kann. Im Gegensatz zu meinen Vorgängern sterbe ich ohne Illusionen. Wer tot ist, ist tot. Wer stirbt, ist nur noch ein Matchbeutel voller verdorbenem Fleisch, Schmalz, Hirn und Knochen - weiter nichts.
Ich nehme meinen Reichtum aber auch noch aus einem anderen Grund mit ins Grab. Aus einem sehr wichtigen Grund sogar. Und dieser Grund betrifft euch drei.
Broadbent legte erneut eine Pause ein. Seine Hände zitte r ten leicht. Seine Kinnmuskeln spannten und entspannten sich.
»Gütiger Gott«, sagte Philip leise. Er richtete sich halb in seinem Sessel auf und ballte die Fäuste. »Es ist einfach u n fassbar.«
Maxwell Broadbent hob die Papiere hoch, um weiter vorzulesen, doch da verhaspelte er sich. Er zögerte, dann stand er abrupt auf und warf sein Manuskript auf den Tisch. Scheiß drauf, sagte er und schob den Stuhl mit einer ung e duldigen Gebärde zurück. Was ich zu sagen habe, ist zu wic h tig für eine Scheißrede. Er umrundete mit mehreren großen Schritten den Schreibtisch. Seine gewaltige Präsenz füllte den Bildschirm und aufgrund der Vergrößerung auch den Raum, in dem sie saßen. Er ging aufgewühlt vor der Kam e ra auf und ab und strich sich über seinen gestutzten Bart.
Es ist nicht leicht. Ich weiß einfach nicht, wie ich es euch dreien erklären soll.
Er wandte sich um, ging zurück.
Als ich in eurem Alter war, hatte ich nichts. Gar nichts. Ich kam aus Erie in Pennsylvania nach New York und hatte nur fünfun d dreißig Dollar und den alten Anzug meines Vaters. Keine Fam i lie, keine Freunde, keinen höheren Schulabschluss. Nichts. Papa war ein tüchtiger Mann, aber er war Maurer. Mama war tot. Ich war ziemlich allein auf der Welt.
»Nicht schon wieder diese alte Leier«, stöhnte Philip.
Es war im Herbst neunzehnhundertirgendwas. Ich hab mir die Füße wund gelaufen, bis ich einen Job kriegte. Es war ein Schei ß job. Ich hab im Mama Ginas Restaurant in der East 88th, Ecke Lexington Avenue, Geschirr gespült. Für eins zwanzig pro Stu n de.
Philip schüttelte den Kopf. Tom fühlte sich wie betäubt.
Broadbent blieb stehen. Er baute sich vor dem Schreibtisch auf, schaute leicht gebückt in die Kamera und funkelte sie an. Ich sehe euch drei förmlich vor mir. Philip - du schüttelst jetzt zweifellos den Kopf. Du, Tom, stehst vermutlich da und fluchst. Und Vernon hält mich einfach für durchgedreht. Gott, mir ist fast so, als könnte ich euch drei sehen. Ihr tut mir wirklich Leid. Was ich hier mache, fällt mir nicht leicht.
Er nahm seinen Schritt wieder auf. Mama Gina war nicht weit weg vom Metropolitan Museum of Art. Eines Tages bin ich aus einer Laune heraus da reingegangen, und von da an war mein heben nicht mehr das gleiche, lch hab
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