Der Codex
es Zeit, sie zu verschließen. Die Männer und Frauen standen im Wald und sangen eine traurige, beklemmende Melodie, während ein Priester ein Bündel heiliger Kräuter schwen k te, deren Wohlgeruch an ihnen vorbeiwehte. Die Zeremonie endete, als die Sonne den Horizont im Westen berührte. Dann schlug der Häuptling auf den Holzschlüssel, und als die letzten Sonnenstrahlen schwanden, schloss sich die große Steintür mit einem dumpfen Schlag.
Alles war still.
Als sie zum Dorf zurückschlenderten, sagte Tom: »Sch a de, dass Vater das nicht gesehen hat.«
Vernon legte einen Arm um ihn. »Er hat's gesehen, Tom. Da bin ich mir ganz s i cher.«
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Lewis Skiba saß auf der windschiefen Veranda seines Holzhauses in einem Schauke l stuhl und blickte auf den See hinaus. Die Hügel waren in herbstliche Pracht gehüllt, im dunklen Wasser spiegelte sich das abendliche Himmelszelt. Alles war genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Der A n legesteg ragte schräg ins Wasser hinein, an se i nem Ende war das Kanu vertäut, und der Geruch warmer Fichtenn a deln trieb durch die Luft. Am anderen Ufer ließ ein Seeta u cher seinen Ruf hören. Sein einsamer Schrei verlor sich zw i schen den Hügeln und wurde von einem anderen, weiter entfernten Vogel beantwortet, dessen Stimme so matt wie das Sternenlicht war.
Skiba trank einen Schluck frisches Quellwasser und ließ den Stuhl langsam nach hinten kippen. Die Sitzgelegenheit und die Veranda gaben ein protestierendes Kna r ren von sich. Skiba hatte alles verloren. Er hatte beim Zusamme n bruch des neun t größten Pharmakonzerns der Welt den Vorsitz geführt. Er hatte zugeschaut, wie die Aktie auf fünfzig Cent gefallen war. Dann hatte man sie aus dem Handel genommen. Man hatte ihn gezwungen, die Za h lungsunfähigkeit zu beantragen. Zwanzigtausend Ang e stellte hatten ihre Betriebsrente und Lebensversicherungen in Schall und Rauch aufgehen sehen. Der Vorstand hatte ihn gefeuert. Die Aktionäre und Untersuchungsausschüsse hatten ihn verleumdet. Kabarettisten hatten ihn im Ferns e hen zum Arsch des Jahrhunderts gekürt.
Derzeit wurde wegen doppelter Buchführung, Börsenm a nipulation und Inside r handel gegen ihn ermittelt. Skiba hatte seine Frau und sein Haus verloren, und seine Anwälte waren im Begriff, den Rest seines Vermögens aufzufressen. Bis auf seine Kinder liebte ihn niemand mehr.
Und doch war er ein glücklicher Mensch. Niemand kon n te seine Zufriedenheit ve r stehen. Die Leute dachten, er habe den Verstand verloren, er sei irgendwie mental zusamme n gebrochen. Sie hatten ja keine Ahnung, wie es war, wenn man aus dem heißesten Höllenfeuer gezogen wurde.
Was war ihm geblieben, damals, vor drei Monaten, in seinem finsteren Büro? Oder in den drei Monaten danach? Diese drei Monate, in denen er kein Wort von Hauser g e hört hatte, waren die düstersten seines Lebens gewesen. Gerade als er gemeint ha t te, der Alptraum würde niemals enden, hatte es plötzlich Neuigkeiten gegeben. Im Mittelteil versteckt hatte die New York Times ein Artikelchen über die Gründung der Alfonso-Boswas-Stiftung veröffentlicht, e i ner Organisation, die mit der Übersetzung und Veröffentl i chung eines gewissen Maya-Codex aus dem 9. Jahrhundert beschäftigt war. Man hatte ihn in der Sammlung des ve r storbenen Maxwell Broadbent gefunden. Laut Dr. Sally C o lorado, der Stiftungsvorsitzenden, handelte es sich bei dem Codex um ein Heilkundebuch der Mayas, das sich bei der Suche nach neuen Medikamenten als äußerst nützlich e r weisen würde. Maxwell Broadbents vier Söhne ha t ten die Stiftung gegründet und finanziert. Der Artikel vermeldete ferner, Broadbent sei unerwartet während eines Familienu r laubs in Mittelamerika verstorben.
Das war alles. Niemand erwähnte Hauser, die Weiße Stadt, die versteckte Gra b kammer und den durchgedrehten Vater, der sich mit seinem ganzen Geld hatte bestatten la s sen. Von all dem erfuhr man nichts.
Skiba hatte sich von einer ungeheuren Last befreit gefühlt. Die Broadbents lebten. Sie waren nicht ermordet worden. Es war Hauser nicht gelungen, den Codex zu erbeuten. Und das Wichtigste: Er hatte es nicht geschafft, sie umz u bringen. Skiba wü r de nie erfahren, was passiert war. Es war zu gefährlich, sich danach zu erkundigen. Er wusste nur eines: Morde konnte man ihm keine anhängen. Ja, er hatte schreckliche Verbrechen begangen und musste eine Menge sühnen, aber das unwiderrufliche Beenden eines Me n schenlebens - auch sein eigenes -
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