Der Countdown
übernachten würde. Am nächsten Morgen sollte er nach Montana fliegen, bevor er in Chicago seine Reise abschloss.
Walker konzentrierte sich auf die Meldungen über seinen Ohrempfänger.
Der Papst war im Obdachlosenheim beinahe fertig und würde gleich herauskommen.
Bei den Agenten vor dem Heim wuchs die Anspannung.
Wachsam musterte Walker die Gesichter an der Absperrung. Ihm fiel ein großer, dünner, langhaariger Mann auf. Neben ihm stand ein älterer Herr mit einer Kamera vor dem Gesicht, die vorher überprüft worden war. Dann eine grazile Frau mit Kopftuch und Handschuhen. Neben ihr ein junger Mann, dessen Augen Walker nicht sehen konnte. Er trug eine Sonnenbrille, hatte blondes Haar und lächelte. Vielleicht ein bisschen zu breit. Wo waren seine Hände? Walker beobachtete ihn, während einige in der Menge anfingen zu singen und zu jubeln.
“Kommt er? Siehst du ihn?”, fragte eine Frau mit goldgerahmter Brille, die eine winzige US-Flagge umklammert hielt.
Walkers Magen zog sich zusammen.
Die Funkübertragung des Secret Service erreichte sein Ohr.
“
Nimbus nähert sich Kutsche …“
Nimbus war das Codewort für den Papst, mit Kutsche war das Papamobil gemeint. Entlang der Absperrung zeigte die Ankündigung Wirkung. Die Agenten versteiften sich. Walker schluckte. Sein Puls beschleunigte sich.
“Dort ist er! Ich sehe ihn!”, rief eine Frau aus der Menge und brach in ohrenbetäubendes Kreischen aus, das wie eine Schockwelle anschwoll.
Lächelnd und winkend verließ der Papst das Gebäude. Die Agenten eskortierten ihn an den Absperrungen entlang zu dem wartenden Autokorso.
Walker überflog wieder Gesichter. Die Frau mit der Brille, der langhaarige Mann, der alte Mann mit der Kamera. Die Leute winkten und schrien. Sie streckten sich, setzten ihre Ellbogen ein, um einen Blick zu erhaschen. Wo war der junge blonde Mann? Walker hatte ihn verloren. Er hatte sich unbemerkt entfernt.
Der blonde Mann hatte sich bis zu der Absperrung vorgedrängt. Doch irgendetwas stimmte nicht. Der Bursche war ganz nah, doch Walker konnte seine Augen hinter dieser dunklen Brille nicht erkennen. Sein Unbehagen wuchs proportional zum Jubel der Menge.
Walkers Herz raste. Der Papst schüttelte Hände, berührte die Menschen, ihre Köpfe, Gesichter, Wangen. Lächelnd ließ er es zu, selbst angefasst zu werden, ließ sich Zeit.
Die Agenten drängten ihn zu einem rascheren Tempo, damit er baldmöglichst die schützende Panzerglashülle des Papamobils erreichte.
Der junge blonde Mann wirkte völlig fehl am Platz in seiner Militärjacke. Mit seinem Lächeln stimmte etwas nicht, und verdammt, warum konnte Walker die rechte Hand des Kerls nicht sehen, die er in der Jackentasche hielt? Die Schultern des Mannes bewegten sich, als er dem Papst etwas zurief.
“Heiliger Vater! Hier drüben! Heiliger Vater, bitte!”
Seine bislang verborgene Hand schoss aus der Tasche.
Walkers Herz setzte aus.
Eine Waffe?
Richtete er eine Waffe auf den Papst? Es sah aus wie der Lauf eines Revolvers, die Hand hielt den Griff mit dem Finger am Abzug.
Walkers Training ließ ihn ganz automatisch reagieren. Er benachrichtigte den Leiter des Scharfschützenkommandos, zog den Papst an der Schulter, um ihn abzuschirmen, als auch schon zwei Officer in Zivil auftauchten, nach der Hand des Verdächtigen griffen und ihn unter viel Geschrei und Chaos der Umstehenden zu Boden zogen.
Walker und die anderen Agenten drängten den Papst in Richtung Papamobil und blickten kurz zurück, wo einer der Officer die vermeindliche Waffe hochhielt.
Ein Kruzifix aus Holz.
Vermutlich hatte der Papst es segnen sollen.
Falscher Alarm.
Walker atmete aus.
Während sie den Papst zu seinem Wagen brachten, hörte Walker über seinen Empfänger die Meldung eines Spähers.
“… Reflektion eines Fernrohrs zwischen den Vorhängen eines Fensters im Süden des Platzes …”
Fluchend musterte Walker einige der nächsten Gebäude – den Smith Tower und das Columbia Center.
Beide befanden sich in Schussweite potenzieller Attentäter.
Die Agenten schotteten den Papst von allen Seiten ab und eskortierten ihn ruhig und ohne Aufregung zurück in das Heim. “Eine unerwartete Verzögerung, Heiliger Vater.”
Der Papst nickte.
Das Ganze geschah so elegant und schnell, dass niemand in der Menge es bemerkte.
Der Späher fasste das Gebäude in der First Avenue ins Auge, von dem aus man die Straße so gut übersehen konnte, dann fokussierte er seine Aufmerksamkeit auf den
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