Der Countdown
in Calgary über den Jungen beugte.
“Was meinen Sie?”, Graham hob die Stimme, um das Tosen des Wassers zu übertönen. “Unfall oder etwas Verdächtiges?”
“Etwas zu früh, um das zu sagen.” DeYoung trug blaue Latexhandschuhe. Mit äußerster Sorgfalt fasste sie den Jungen an den schmalen Schultern, um ihn umzudrehen. Sein Hinterkopf war zerschmettert wie eine Eierschale, sodass Hirngewebe freilag. “Dies scheint die Hauptverletzung zu sein.”
“Von den Felsen?”
“Vermutlich. Wenn wir ihn und das Mädchen in Calgary obduziert haben, wissen wir mehr. Zu diesem Zeitpunkt ist Mutter Natur Ihre Hauptverdächtige.”
Graham blickte auf DeYoungs Armbanduhr und machte sich Notizen. Block, Stift und Klemmbrett hatte er sich von den Helfern aus Banff geliehen.
“Keine Schwimmwesten”, sagte Graham.
“Wie bitte?”
“Das Mädchen hatte keine. Und er auch nicht. Haben Sie irgendwo Schwimmwesten gesehen?”
“Nein. Aber würden Sie Ihren Verdacht bitte konkretisieren?”
“Es ist nur so ein Gefühl.”
“Ein Gefühl?”
“Vergessen Sie’s. Ich taue immer noch auf. Haben Sie einen Hinweis auf seine Identität gefunden? Etwas in seinen Taschen? Etiketten in der Kleidung?”
“Nein. Nichts außer einer kleinen Taschenlampe und einem Granola-Riegel. Sehen Sie, das ist Ihr Job. Bringen Sie uns einen Namen und einen Familienangehörigen, damit wir den Zahnstatus zur Bestätigung anfordern können. Sie wissen ja, wie das so läuft.”
Ja, er wusste, wie das so lief.
“Dann dürfen wir ihn abtransportieren?” DeYoung hatte noch viel Arbeit vor sich.
Graham antwortete nicht. Er starrte lediglich den Jungen an, sodass sie Graham mit einer gewissen Besorgnis musterte.
“Sind Sie in Ordnung?”
DeYoung wusste einiges über Grahams private Situation.
“Dan, Sie wissen, ich bin Nora nur letztes Jahr zu Weihnachten begegnet. Wir saßen alle beim Bankett des Justizministers. Wir hatten viel Spaß, erinnern Sie sich?”
Er erinnerte sich.
“Es tut mir so leid. Ich habe ihre Trauerfeier verpasst. Ich war auf einer Konferenz in Australien.”
“Das ist in Ordnung.”
“Wie kommen Sie zurecht? Ganz ehrlich?”
Er ließ seinen Blick von dem Jungen zum reißenden Fluss wandern, starrte in die Fluten, als ob sich dort draußen die Antwort auf alles befände.
Er erhob sich. “Sie können ihn jetzt mitnehmen.”
DeYoung schloss den Leichensack. Ihre Männer luden ihn auf eine Bahre, schnallten ihn fest und trugen ihn vorsichtig über die Uferböschung in ihren Wagen. Graham blickte dem Wagen nach, wie er den schmalen Pfad entlangholperte und mit quietschender Federung auf die Straße einbog. Dann war er verschwunden.
Einen Augenblick stand Graham ganz allein am Unglücksort.
Er war zu drei Seiten mit gelbem Band abgesperrt. Graham trug Latexhandschuhe und Überschuhe. Die Kollegen von der Kriminaltechnik wirkten vor den dunklen Felsen und dem grünen Fluss in ihren strahlend weißen Overalls geradezu surreal. Wortlos fotografierten sie die Szenerie, maßen Abstände aus und sammelten mögliche Beweisstücke.
Alles mit dem Wissen um einen fundamentalen Lehrsatz, den jeder Detective kannte.
Hinter einem Unglücksfall in der Wildnis kann sich ein perfekter Mord verbergen. Behandle den Fall grundsätzlich als verdächtig, denn du kennst die Wahrheit nicht, bevor du alle Fakten kennst.
Graham ging seine Notizen durch und blätterte in den Aussagen der Leute, die den Jungen gefunden hatten. Haruki Ito, vierundvierzig Jahre alt und Fotograf aus Tokio, war der Erste. Er hatte die Frauen mit den Fahrrädern angehalten. Ingrid Borland, einundfünfzig Jahre alt, eine Bibliothekarin aus Frankfurt, und Marlena Zimmer, dreiunddreißig Jahre alt, Programmiererin aus München. Sie schienen beide gewöhnliche Touristen zu sein.
An ihrem Verhalten war nicht Ungewöhnliches aufgefallen.
Der Fotograf aus Tokio war ein erfahrener Reporter, der schon furchtbare Dinge wie Krieg und Tsunamis miterlebt hatte. Er war ziemlich ruhig, fast philosophisch gewesen, dachte Graham. Anders als die beiden Frauen, die der vergebliche Versuch, den Jungen wiederzubeleben, tief erschüttert zurückgelassen hatte. “
Das arme Kind. Das arme, arme Kind.”
Rauschen drang aus einem der Funkgeräte und lenkte Grahams Aufmerksamkeit auf einen Mann, der sich ihm näherte. Er kam aus Richtung der parkenden Einsatzwagen oben am Flussufer, wo die Kollegen von den Einheiten aus Banff und Canmore mit den Zeugen sprachen. Der Mann
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