Der Countdown
kannte die Methoden der Bande, die hinter diesem Verbrechen steckte. Sie würden hier keine Überlebenden finden. Als er zum Land Rover zurückkehrte, sagte er nur: “Lasst uns weiterfahren.”
Ob aus Äthiopien oder Algerien, Kurdistan oder Sudan – jeder Angehörige der Hilfsorganisation kannte die Grausamkeiten, die den Enteigneten und Rechtlosen überall dort widerfuhren. Der starre Blick eines toten Kindes, der Gestank einer Leiche. Die Farben und Formen menschlicher Organe, der Anblick von abgerissenen Gliedmaßen oder einem Festmahl der Maden auf einem abgetrennten Kopf, all das hatten sie bereits erlebt.
Sie waren mit den Schrecken vertraut.
Wie erwartet, fanden sie keine Überlebenden zwischen den mehreren Dutzend Toten, die der Angriff fundamentalistischer Banditen gefordert hatte. Viele der Opfer waren enthauptet worden, nachdem man sie gefoltert hatte. “Das ist sozusagen ihre Unterschrift”, sagte der Soldat, während sie nach Dokumenten und anderen Gegenständen zur Identifizierung der Opfer suchten. Sogar die Kamele, Schafe und Ziegen waren getötet worden.
Vier Männer, sechs Frauen und acht Kinder zwischen zwei Monaten und dreizehn Jahren waren ums Leben gekommen.
Beduinen waren Kamel- und Ziegentreiber, ein aussterbendes Volk, das seit Jahrhunderten auch in dieser Region als Nomaden lebte. Selbst wenn manche Stammesfehde über Generationen andauern konnte, überstieg dieser Angriff jede Perversion von Stammesgesetzen und -kämpfen.
Eine unfassbare Gräueltat, schrieb die Amerikanerin in ihr Tagebuch.
Bis Einbruch der Nacht hatten sie die Leichen zusammengetragen und aus den Überresten der Zelte und Betten, aus handgewebten Decken und Kamelsätteln einen riesigen Scheiterhaufen errichtet. Die Nacht war klar und still. Der Wind ruhte. Die Sternbilder über ihnen funkelten, während Flammen und Rauch in den ewigen Wüstenhimmel stiegen. Während der ägyptische Arzt etwas aus dem Gedächtnis rezitierte, verbrannten die Leichen mit jenem Verwesungsgeruch, den man niemals mehr vergisst.
“Wir haben nur das eine Leben auf dieser Welt. Wir sterben und wir leben, und nichts zerstört uns, außer der Zeit.”
Während in jener Nacht das Feuer brannte und sich die Gruppe in ihre Zelte zurückzog, sprachen die Helfer nicht miteinander und versuchten auch nicht, einander zu trösten. Der Ägypter suchte in der abgewetzten Ausgabe seines heiligen Buches nach einer Antwort. Der Brasilianer und der Soldat spielten Schach. Die Amerikanerin weinte vor sich hin, bis sie einschlief.
Am nächsten Morgen standen sie gegen Sonnenaufgang auf, just als der Wind wieder einsetzte. Völlig erschöpft, redeten die vier wenig miteinander, als sie losfuhren. Sie waren etwa drei Stunden unterwegs, als der Brasilianer am Lenkrad des Mercedes in den Sandsturm vor sich blinzelte. “Sieht so aus, als wäre da was vor uns. Vielleicht ein Tier.”
“Eine Ziege aus dem Lager, die überlebt hat”, sagte der Arzt. “Lasst sie uns mitnehmen.”
“Ich bin nicht sicher, was es ist.” Der Brasilianer nahm über Sprechfunk Kontakt mit dem Soldaten im Land Rover auf.
Der Soldat griff nach seinem Fernglas und versuchte, die schemenhafte Gestalt zu erkennen.
“Das ist kein Tier! Das ist eine Frau!”
Der Brasilianer schaltete einen Gang höher.
Ohne die Fahrzeuge überhaupt wahrzunehmen, ging die Frau entschlossen weiter, auch dann noch, als die Autos sie überholten und vor ihr hielten. Alle vier Helfer stiegen aus, stellten sich ihr in den Weg und starrten sie an. Erst als die Frau sie erreichte, hielt sie an.
Sie schien in den Dreißigern zu sein. Nach dem Stoff ihrer zerfetzten Kleidung zu schließen, wirkte sie auf den ersten Blick wie die Frau eines Hirten. Doch der ägyptische Arzt erkannte mehr. Er bemerkte die Züge einer gebildeten Frau, einer Frau der gehobenen Mittelschicht vielleicht.
Einer Frau, die hier nicht hergehörte.
Sie sahen, dass das Gesicht der Frau mit kleineren Wunden und getrocknetem Blut übersäht war. Ihre Lippen waren ausgetrocknet. Ihre leeren Augen nahmen die Helfer gar nicht wahr. Sie sahen ins Leere.
“Wie heißen Sie?”, fragte der Arzt erst auf Arabisch, dann in verschiedenen anderen Sprachen, darunter Englisch und Französisch.
Keine Antwort.
“Sie steht unter Schock und ist völlig dehydriert”, sagte er und wendete sich dann der Frau zu. “Sie sind in Sicherheit. Sie sind jetzt bei Freunden.”
Bei diesen Worten brach die Frau zusammen. Der Soldat fing sie
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