Der Countdown
Verkörperung des Leids.
Gefühllos, einsam und abgeschnitten vom Rest der Welt, spürte Samara wie eine Verwandlung in ihr vor sich ging.
Jede Sekunde, jede Träne, jeder Schlag ihres Herzen brachte sie einer schrecklichen Gewissheit näher.
Der Gesang der alten Frauen, der das Morgengebet abschloss, verebbte. Ohne Aufforderung setzte sich eine der Ältesten neben Samara und nahm ihre Hand.
Knochige Finger mit ledriger, sonnengebräunter Haut fuhren die Linien in Samaras Hand nach. Die alte Frau musterte ihre Handfläche lange und schweigend.
Dann sprach sie zu Samara in einem altertümlichen Dialekt.
Sie hätte Samaras Mutter und ihre Großmutter gekannt, sagte sie, kenne den Beduinenstamm, dem ihre Familie entstamme, in der Nähe der umkämpften Gebiete.
Samara wird bald dorthin aufbrechen.
Sie wird zu ihrem Volk und der Wüste zurückkehren, weil die nächste Stufe ihres Lebens es erfordert.
Es ist bereits vorhergesagt, genau hier.
Die alte Frau drückte leicht Samaras Hand.
In den folgenden Wochen kam Samara jeden Tag zum Friedhof, um über ihren Verlust, den Fluss und die Prophezeiung der alten Frau nachzusinnen.
Wenige Monate später startete sie Anfragen bei internationalen Hilfsorganisationen.
Samara bat einflussreiche Ärzte, die mit Diplomaten bekannt waren, ihre Sache voranzutreiben. Sie bereitete sich auf die Abreise in die Wüste vor, um das zu finden, was dort schon auf sie wartete.
24. KAPITEL
R ub al-Khali, auch “Leeres Viertel” genannt, arabische Halbinsel
Der verbeulte Land Rover und ein Mercedes-Transporter, die beide das Emblem und den Schriftzug einer internationalen Hilfsorganisation trugen, rumpelten durch die Dünenlandschaft.
Gelegentlich verschwanden ihre Umrisse in dem wütenden Sandsturm, während sie immer tiefer in das Niemandsland vordrangen, das sich zwischen dem Jemen und Ash Sharqiyah, der östlichsten Provinz Saudi-Arabiens, erstreckt.
Der kleine Konvoi befand sich auf einer Rettungsmission, die vor zwei Tagen begonnen hatte. Von einem zweimotorigen Flugzeug aus, das im Auftrag einer holländischen Ölfirma Arbeiter zum Golf von Oman flog, hatte man Spuren eines Angriffs auf ein Beduinenlager erkennen können. Es befand sich etwa dreihundert Kilometer südöstlich von Al Abaila nahe der jemenitischen Grenze.
Heutzutage gab es nur noch wenige Kamelkarawanen, und Beduinenstämme wanderten nur selten so tief in die Rub al-Khali. Die größte Sandwüste der Erde gehörte auch zu den gefährlichsten und umfasste knapp achthunderttausend Quadratkilometer. Die Region war unbewohnt, fast gänzlich ohne Wasser und erst in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts erforscht worden. Nun befand man sich im Frühsommer und damit in der Saison des
Shamal
, eines starken nordwestlichen Windes, der schwerste Sandstürme entfesseln konnte.
Die Rub al-Khali war eine gesetzlose Zone, die von rebellischen Extremisten und Waffenhändlern kontrolliert wurde. Lokale Banden entführten regelmäßig Touristen, ausländische Ölarbeiter oder andere Reisende, um Lösegeld zu erpressen.
Die Verweigerung einer Lösegeldzahlung führte in der Regel zu einer Enthauptung.
Nach einem Tag und einer Nacht Fahrt, geleitet von einem wankelmütigen GPS-Gerät, hatte der kleine Suchtrupp die angegebene Stelle erreicht. Die Besatzung des Flugzeugs hatte sie gewarnt, dass sie vermutlich keine Überlebenden finden würden.
Das Fortkommen war schwierig, weil der Wind eine Sandwand nach der anderen gegen die Fahrzeuge schleuderte, sodass die Frontscheiben klirrten und die Sicht stark eingeschränkt war. Der Rettungstrupp wurde angeführt von einem ägyptischen Arzt aus Kairo. Dann gab es im Team noch einen Brasilianer, der seinen Job als Banker in Sao Paulo aufgegeben hatte, eine junge Anwältin und Aktivistin gegen die Todesstrafe aus Texas sowie einen italienischen Soldaten aus Venedig.
Mitten aus dem heißen sandigen Wind, der die Sonne verdunkelte, flog ihnen ein großes Stück Zeltplane entgegen und blieb am Kühler des Land Rover hängen. Es flatterte wild im Wind, als sie auf den Kadaver eines Tieres stießen, dessen steife Gliedmaßen in Richtung Himmel ragten.
“Sieht nach einer Ziege aus”, sagte der Soldat und hielt den Wagen an. Er zog ein Stück seines Turbans über das Gesicht und kletterte hinaus in den Sturm, um den Kadaver zu inspizieren. Es war keine Ziege, sondern die Leiche eines alten Mannes. Man hatte sie ausgeweidet. Der Soldat sagte nichts, als ein Windstoß ihn traf. Er
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