Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Countdown

Der Countdown

Titel: Der Countdown Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Mofina
Vom Netzwerk:
rief immer wieder ihren Namen.
    Sanitäter halfen Samara in einen Krankenwagen. Sie versuchten sie zu behandeln, bis sie die Helfer abschüttelte, weil sie sah, wie zwei Leichen – eine groß, eine klein – aus den Ruinen ihres Hauses geborgen wurden.
    Ahmed! Muhammad!
    Samara konnte und wollte nicht akzeptieren, dass beide tot waren.
    Es war alles nur ein furchtbarer Traum.
    Wach auf! Wach auf!
    Wann nur würde sie aufwachen?
    Alte Frauen in schwarzen Gewändern kamen zu ihr, wollten Trost durch Gebete spenden. Sie stützten sie, als sie neben den beiden Körpern kniete, die dort Seite an Seite auf dem Boden lagen. Die Laken, die sie bedeckten, hoben sich weiß gegen die verbrannte Erde ab. Um Muhammads Kopf hatte man eine Kapuze gebunden.
    Sein Gesicht ist fort.
    Sie nahm seine Hand und hielt sie an ihre Wange. Ihre Tränen zogen eine Spur durch den Staub, der seine Haut bedeckte.
    Sie erinnerte sich an sein warmherziges Lächeln an dem Tag, an dem sie sich an der Universität in London kennengelernt hatten.
    Muhammad.
    Sie fühlte, wie seine Güte und sein Geist die Erde verließen.
    Muhammad.
    Dann zogen die alten Frauen Samara fort, und sie sah zu, wie die mit Mundschutz ausgestatteten Hilfskräfte ihn auf einen Laster luden, um ihn zur Leichenhalle zu bringen.
    Muhammad!
    Sie warf sich auf den kleineren Körper.
    Ahmed.
    Sie zog das Laken zurück.
    Um sein Gesicht im Tod zu sehen.
    Ihr Sohn.
    Ihr Kind.
    Ihr Leben.
    Alle Umstehenden fuhren bei Samaras schriller Wehklage zusammen, die von bodenloser Trauer zeugte. Wie eine Prozession von Engeln drängten sich die Frauen um sie, um ihren Schmerz zu teilen.
    Samara reckte die Arme gen Himmel, fragte verzweifelt nach dem Warum.
    Ein schwarzer Kampfhubschrauber auf Patrouille zog langsam vorüber. Sie erkannte die schwarzen Helme der Crew.
    Der Crew, die diese ganze Szenerie beobachtete.
    In diesem Augenblick erhielt sie die Antwort, auch wenn ihr das erst später klar werden sollte.
    Samara blickte auf Ahmed hinunter.
    Zärtlich schob sie die Hände unter das Laken.
    Hob ihren Sohn liebevoll in die Arme.
    Die alten Frauen wehrten die Rettungskräfte ab, die ihn ihr abnehmen wollten.
    Ahmed schien kein Gewicht zu haben, als Samara durch die verwüstete Stadt in Richtung Leichenhalle ging.
    Die alten Frauen folgten ihr, wobei sie sich mit den Fäusten an die Brust schlugen und Gebete riefen. Andere schlossen sich ihrer Todesprozession an.
    Während sie von Viertel zu Viertel zogen, wurden sie von argwöhnischen Soldaten beobachtet, die mit dem Finger am Abzug nach Anzeichen für einen Aufstand suchten.
    Sie sahen Ahmeds kleine Hand, die aus dem Leichentuch ragte, als frage sie nach dem Warum in einer Zeit und an einem Ort, an dem es keine Vernunft gab.
    Kampfhubschrauber schwebten weiter über Samara, deren Tränen auf ihren toten Sohn fielen.
    Später halfen ihr Kollegen aus dem Krankenhaus, Nachbarn und mitfühlende Fremde von Hilfsorganisationen.
    Samara besaß nur eine vage, chaotische Erinnerung an das, was danach folgte.
    Sie wurde zu einem Raum in der örtlichen Moschee gebracht.
    Muhammad und Ahmed lagen Seite an Seite auf zwei Tischen, und die alten Frauen zeigten ihr, wie sie die nackten Körper für die Reise ins Paradies zu waschen hatte.
    Die Frauen beteten, während sie die Leichen wusch.
    Dann wurden die Körper in Tücher gehüllt und in Särge gelegt.
    Am nächsten Tag wurden die Särge mit Blumen geschmückt und auf Autodächer geladen. In einer langsamen Prozession fuhren sie zu einem Friedhof am Ufer des Tigris, einer der vier Flüsse, die angeblich im Garten Eden entsprangen.
    Die Särge wurden in eine Grabstelle hinuntergelassen, damit Vater und Sohn beisammen lagen. Ihre Freunde mussten Samara davon abhalten, sich mit ins Grab zu stürzen.
    Völlig erschöpft, nahezu leblos, weigerte sich Samara, den Friedhof zu verlassen.
    Stunden vergingen, das Tageslicht wich der Dämmerung und diese schließlich der Nacht mit Gebeten. Die alten Frauen verstanden und wachten über sie. Deckten sie mit Laken und Tüchern zu.
    Als der neue Tag dämmerte, bereiteten sie ihr Tee und brachten Brot. Schweigend saßen sie mit ihr am Flussufer des Tigris, der so alt war wie die Zeit.
    Einem Fluss, der große Verzweiflung und große Freude kannte.
    Einem Fluss, der alle Antworten bereithielt.
    Und als die Sonne aufging, folgten die alten Frauen dem Aufruf zum Gebet und ließen Samara allein am Ufer des Tigris.
    Bewegungslos wie eine Statue saß sie da, eine

Weitere Kostenlose Bücher