Der Courier des Czar
sich viele Soldaten mit roher Gewalt in die Reihen der Gefangenen. Von Peitschenschlägen getrieben oder von Lanzenschäften gestoßen, mußten die Armen sich eiligst erheben und an der Umfassung des Lagers Stellung nehmen. Ein vierfacher Cordon von Fußsoldaten, und hinter diesen von Reitern, machte jedes Entweichen unmöglich.
Bald herrschte Schweigen ringsum, und auf ein Zeichen Iwan Ogareff’s begab sich Sangarre nach der Gruppe, in deren Mitte Marfa Strogoff sich befand.
Die alte Sibirierin sah sie herankommen. Sie errieth, was geschehen solle. Ein verächtliches Lächeln spielte um ihre Lippen. Dann neigte sie sich zu Nadia und sagte zu ihr mit gedämpfter Stimme:
»Du kennst mich nicht mehr, meine Tochter! Was auch kommen und wie hart diese Prüfung werden möge, – kein Wort! keine Bewegung! Es handelt sich hier um ihn, nicht um mich!«
Da legte, nachdem sie sie einen Augenblick angesehen, Sangarre die Hand auf die Schulter der alten Sibirierin.
»Was begehrst Du? fragte Marfa Strogoff.
– Komm’ mit mir!« erwiderte Sangarre.
Fortdrängend führte sie Jene in die Mitte des freien Raumes vor Iwan Ogareff.
Michael Strogoff hielt die Lider halb geschlossen, um sich nicht durch das Aufflammen seiner Augen zu verrathen.
Vor Iwan Ogareff angelangt, richtete Marfa Strogoff sich hoch und stolz empor, kreuzte die Arme und wartete.
»Du bist ja wohl Marfa Strogoff? fragte sie Iwan Ogareff.
– Die bin ich, antwortete ruhig die alte Sibirierin.
– Erinnerst Du Dich noch Deiner Antwort, als ich Dich vor drei Tagen in Omsk um Etwas fragte?
– Nein.
– Du weißt also nicht, daß Dein Sohn als Courier des Czaren durch Omsk gekommen ist?
– Das weiß ich nicht.
– Und jener Mann, den Du im Posthofe als Deinen Sohn zu erkennen glaubtest, das war Dein Sohn nicht?
– Nein, das war er nicht.
– Und seitdem ist er Dir auch hier unter den Gefangenen nicht zu Gesicht gekommen?
– Nein.
– Und wenn ich Dir ihn zeigte, würdest Du ihn wieder erkennen?
– Nein.«
Bei dieser Antwort, dem Beweise des unerschütterlichen Entschlusses, nichts zu gestehen, durchlief ein leises Murmeln die Umgebung.
Iwan Ogareff konnte sich einer drohenden Bewegung nicht enthalten.
»So höre: Dein Sohn ist hier und Du wirst ihn mir sofort bezeichnen.
– Nein!
– Alle die bei Omsk und Kolywan gefangenen Männer werden Dir vorgeführt werden, und wenn Du dann Michael Strogoff nicht bezeichnest, erwarten Dich ebenso viele Knutenhiebe, als Gefangene vorüber gekommen sind.«
Iwan Ogareff hatte wohl eingesehen, daß er die unbeugsame Sibirierin trotz aller Drohungen und Torturen nicht werde zum Reden bringen können. Um den Courier des Czaren zu entdecken, rechnete er viel weniger auf jene, als auf Michael Strogoff selbst. Er hielt es für unmöglich, daß Mutter und Sohn, wenn sie einander gegenüber ständen, sich nicht durch irgend eine Bewegung verrathen sollten. Wäre es ihm nur allein um das kaiserliche Schreiben zu thun gewesen, so brauchte er ja nur einfach einen Befehl zur Durchsuchung aller Gefangenen zu erlassen. Michael Strogoff konnte das Schriftstück aber auch vernichtet haben, nachdem er seinen Inhalt durchlas; wurde er dann nicht erkannt und gelang es ihm vielleicht noch, nach Irkutsk zu flüchten, so waren Iwan Ogareff’s Pläne durchkreuzt. Der Verräther mußte sich also nicht nur des Briefes, sondern auch des Ueberbringers desselben versichern.
Nadia hatte Alles mit angehört; sie wußte nun, wer Michael Strogoff sei und warum er die von den Feinden überfallenen Provinzen Sibiriens unerkannt durchreisen wollte.
Auf Iwan Ogareff’s Befehl defilirten die Gefangenen Mann für Mann vor Marfa Strogoff, welche unbeweglich blieb, wie eine Bildsäule, und deren Blicke die vollständigste Gleichgiltigkeit heuchelten.
Ihr Sohn befand sich unter den Letzten, welche herzutraten. Als er vor seiner Mutter vorüber schritt, schloß Nadia die Augen, um es nicht mit anzusehen.
Auch Michael Strogoff war scheinbar ruhig geblieben, aber seine hohle Hand blutete, so fest hatten sich die Nägel eingepreßt.
Iwan Ogareff war vorläufig besiegt durch die Mutter und den Sohn!
Sangarre, welche neben ihm stand, äußerte nur ein Wort.
»Die Knute herbei! sagte sie.
– Ja! rief Iwan Ogareff, der sich nicht mehr bemeistern konnte, die Knute dieser alten Schurkin, bis sie den Geist aufgiebt!«
Mit dem schrecklichen Zuchtinstrument in der Hand näherte sich ein tartarischer Soldat der Marfa Strogoff.
Die Knute
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