Der Courier des Czar
bejahrte Mutter.
– Ich heiße nicht Michael! Ich bin nie Ihr Sohn gewesen. Ich bin Nikolaus Korpanoff, Kaufmann aus Irkutsk! …«
Hastig verließ er den Wartesaal, in dem noch einmal die Worte wiedertönten:
»Mein Sohn! Mein Sohn!«
Michael Strogoff war abgereist, so schwer es ihm wurde. Er sah seine alte Mutter, welche bewußtlos auf einer Bank zusammen gebrochen war, für jetzt nicht mehr. Gerade als der Postmeister ihr zu Hilfe eilen wollte, erhob sich die alte Frau selbst schon wieder. In ihrem Geiste war es plötzlich hell geworden. Sie, – verleugnet von ihrem leiblichen Sohne, – das war unmöglich! Ebenso unmöglich erschien es ihr aber, sich getäuscht und einen Anderen für ihn gehalten zu haben. Ohne Zweifel war es ihr Sohn gewesen, den sie eben gesehen hatte, und wenn Dieser sie nicht wieder erkannte, so wollte er es nicht so durfte er sie nicht erkennen, so hatte er triftige, zwingende Gründe, so zu handeln. Dann unterdrückte sie allen Mutterschmerz in ihrer Brust und peinigte sich mit dem einzigen Gedanken: »Sollte ich ihn wider Willen in’s Verderben gestürzt haben?«
»Ich bin eine Thörin! antwortete sie Allen, die sie fragten. Meine Augen haben mich betrogen! Dieser junge Mann ist mein Kind nicht! Er hatte ja gar nicht dessen Stimme! Lassen wir es. Zuletzt werde ich meinen Sohn noch in Jedermann zu sehen glauben.«
Kaum zehn Minuten später erschien ein Tartarenofficier im Posthause.
»Marfa Strogoff? fragte er laut.
– Das bin ich, antwortete die betagte Frau so ruhig im Ton und im Antlitz, daß die Zeugen der vorigen Scene sie kaum wieder erkannten.
– Komm mit mir!« sagte der Officier.
Mit sicherem Schritte folgte Marfa Strogoff dem tartarischen Officier und verließ das Posthaus.
Wenige Minuten später befand sich Marfa Strogoff mitten in dem Truppenlager des Hauptplatzes und gegenüber dem gefürchteten Iwan Ogareff, dem alle Einzelheiten der oben erzählten Scene unverweilt berichtet worden waren.
Iwan Ogareff muthmaßte ebenfalls den wahren Sachverhalt und hatte die alte Sibirierin selbst darüber befragen wollen.
»Dein Name? leitete er das Verhör in strengem Tone ein.
– Marfa Strogoff.
– Du hast einen Sohn?
– Ja.
– Er ist Courier des Czaren?
– Ja.
– Wo befindet er sich?
– In Moskau.
– Du bist von ihm ohne Nachrichten?
– Ohne jede Nachricht.
– Seit wie lange?
– Seit zwei Monaten.
– Wer ist aber der junge Mann, den Du noch vor wenig Augenblicken im Posthause Deinen Sohn nanntest?
– Ein junger Sibirier, den ich für ihn hielt, antwortete Marfa Strogoff. Das ist der Zehnte, in dem ich meinen Sohn zu finden glaubte, seit die Stadt voller Fremden ist. Ich glaube ihn eben überall zu erkennen.
– Jener junge Mann war demnach Michael Strogoff nicht?
– Er war es leider nicht.
– Weißt Du, alte Frau, daß ich Dich foltern lassen kann, bis Du die Wahrheit eingestehst?
– Ich spreche die Wahrheit, und keine Folter würde meine Aussage abzuändern vermögen.
– Jener Sibirier war Michael Strogoff wirklich nicht? fragte zum zweiten Male und eindringlicher Iwan Ogareff.
– Nein! Er war es nicht! antwortete Marfa Strogoff zum zweiten Male. Glaubt Ihr, ich würde um Alles in der Welt einen solchen Sohn, wie mir ihn Gott gegeben hat, verleugnen?«
Mit boshaftem Auge fixirte Iwan Ogareff die Frau, die ihm ins Gesicht zu trotzen wagte. Er zweifelte keinen Augenblick, daß sie in dem jungen Sibirier ihren Sohn wirklich erkannt habe. Und wenn dennoch der Sohn zuerst die Mutter verleugnet hatte, wie es die Mutter jetzt ihrerseits that, so mußten dem unzweifelhaft sehr ernste Ursachen zu Grunde liegen.
Iwan Ogareff galt es als unbestreitbare Thatsache, daß der angebliche Nikolaus Korpanoff kein Anderer sei als Michael Strogoff, der Courier des Czaren, der sich unter einem falschen Namen verbarg und der einen Auftrag haben mußte, dessen Kenntniß für ihn von der weitgehendsten Bedeutung sein konnte. Er gab also sofort Befehl, Jenen zu verfolgen.
Dann wendete er sich gegen Marfa Strogoff zurück und sagte:
»Diese Frau soll sofort nach Tomsk übergeführt werden!«
Und während die Soldaten Jene roh und grausam fortdrängten, murmelte er zwischen den Zähnen:
»Zur passenden Zeit werde ich ihr schon die Zunge zu lösen wissen, der alten Hexe!«
Fünfzehntes Capitel.
Der Barabinen-Sumpf.
Es war Michael Strogoff’s Glück gewesen, daß er das Posthaus so schnell als möglich verließ. Auf Iwan Ogareff’s Befehl wurden sofort
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