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Der Dativ Ist dem Genitiv Sein Tod 1

Der Dativ Ist dem Genitiv Sein Tod 1

Titel: Der Dativ Ist dem Genitiv Sein Tod 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Sick
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Mehrzahl gönn ich mir

    Sind Antibiotikas schädlich? Lohnen sich Praktikas?
    Was man nicht selber weiß, das muss man sich erklären.
    Oder man schlägt's im Lexika nach. Viele kennen sich im Einzelfall nicht aus, und erst recht nicht mit der Mehrzahl.

    Neulich im Café, Mutter und Tochter bringen sich bei Schokosahnetorte mit Schlag (Mutter) und Vollkorn-Möhrenkuchen (Tochter) auf den neuesten Stand der Dinge. Die Mutter löst vier Stück Würfelzucker in ihrem Tee auf und sagt: »Ach, ihr wollt in die Türkei? Na ja, machen ja viele in letzter Zeit. Die Hotels sollen ja auch ganz anständig sein. Aber sag mal, Kleines, die Türkei ist ja nicht EU, braucht ihr denn da keine Visas?«

    Da war es wieder, dieses Wort mit der doppelten Pluralendung. Nicht erst seit PISA leidet Deutschland am Visa. Die massive Werbung der gleichnamigen
    Kreditkarte hat offenbar dafür gesorgt, dass die Einzahl Visum weiträumig in Vergessenheit geraten ist. So steht dem »Veni, vidi, vici!« (Ich kam, sah und siegte) des humanistisch gebildeten Einzelfalls heute das »Visums, Visas, Visi?« der orientierungslosen Mehrheit gegenüber.
    Ganz betroffen sind wir auch von all den vielen
    »Praktikas«, die junge Menschen heute absolvieren müssen, um herauszufinden, was sie später definitiv nicht machen wollen. Immer mehr Musiker spielen gerne
    »Solls«, und mit erschreckender Geschwindigkeit machen vertrauliche »Internas« die Runde.

    Kann man es den Deutschen aber überhaupt zum
    Vorwurf machen, wenn sie Fremdwörter falsch
    benutzen? Immerhin hat Mutti im Café doch gewusst, dass man an Wörter, die mit einem Vokal enden, ein -s anhängen muss, um die Mehrzahl zu bilden. So wie bei Galas, Omas, Kobras und Zebras. Woher soll sie wissen, dass die Endung -a in diesem Fall bereits die Pluralform markiert? Muss man das kleine Latinum gemacht haben, um mitreden zu können?
    Der Umgang mit Fremdwörtern stellt die Deutschen immer wieder vor große Herausforderungen. Erstens gilt es in Erfahrung zu bringen, was das fremde Wort genau bedeutet: (Visum = Ein- oder Ausreiseerlaubnis, Sichtvermerk im Reisepass). Dann ist es nützlich zu wissen, wie man es richtig ausspricht (»Wiesumm«). Und schließlich soll man es noch korrekt beugen und in die Mehrzahl bringen können: des Visums, mit den Visa oder Visen .. .

    Schon gibt es Menschen, die meinen, das Visa-
    Prinzip begriffen zu haben, und sich anschicken, andere Begriffe nach demselben Prinzip in die Mehrzahl zu wuchten: Da werden aus einem »Universum« plötzlich mehrere »Universa«. So heißen vielleicht Sportvereine und Versicherungen, aber auf Deutsch spricht man nach wie vor von Universen, daran hat sich auch durch die Rechtschreibreform nichts geändert.

    Und dann gibt es Menschen, die sich immer wieder freiwillig in die Quadratur des Kreises verbeißen, indem sie versuchen, von ohnehin schon unbequemen
    Fremdwörtern auch noch die Mehrzahl zu bilden.

    »Wie lautet der Plural des Wortes Lapsus?«, will ein Kollege von mir wissen, »Lapsi? Lapsusse?« Da ich weiß, dass ihn die Antwort nicht zufrieden stellen wird, empfehle ich ihm, es mit einem anderen Wort zu probieren. » Dann nehme ich Fauxpas«, sagt er, »wie lautet da die Mehrzahl?«
    Ähnlich harte Nüsse haben Menschen aus der IT-
    Branche zu knacken, die immer wieder aus heiterem Himmel in Notsituationen geraten, in denen sie Wörter wie Status und Modus in die Mehrzahl zwängen wollen.

    Der Plural des lateinischen Wortes status lautet statūs, mit langem u. Und die deutsche Sprache sieht keine anders lautende Nebenform vor. Also: zwei Status, wie auch zwei Lapsus.
    Der Drang der deutschen Zunge, an die Endung noch ein -se anzuhängen, ist kaum zu bezähmen. So gibt es im gesprochenen Deutsch jede Menge »Lapsusse« und
    »Statussee, die nicht mit dem Lateinischen konform gehen, aber immerhin in Analogie zu einem berühmten Fall aus der Pflanzenwelt gebildet scheinen: Kaktus, Kaktusse.
    Sagte ich gerade Kaktusse? Es heißt natürlich
    Kakteen, wie jeder weiß. Mit den Analogien ist das so eine Sache. Im Moment blühen übrigens gerade die Krokeen – ganz entzückend sieht das aus, diese vielen kleinen orange und violetten Blüten ...
    Status und Lapsus gehören übrigens in eine Reihe lateinischer Lehnwörter, die zwar im Singular auf -us enden, im Plural dann aber wider Erwarten kein -i bekommen. Das Lateinische unterscheidet fünf
    Deklinationstypen, und am tückischsten ist der vierte, die so genannte u-Deklination.

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