Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 2: Folge 2 (German Edition)
Tauchen Sie nun mit mir in die Tiefen unserer Sprache, wo glitzernde Schwärme von Zwiebelfischen und viele andere kuriose Unterwassergeschöpfe schon darauf warten, von uns entdeckt und bestaunt zu werden.
Bastian Sick
Hamburg, im August 2005
Wir gedenken dem Genitiv
Der Genitiv gerät zusehends aus der Mode. Viele sind ihn überdrüssig. Dennoch hat er in unserer Sprache seinen Platz und seine Berechtigung. Es kann daher nicht schaden, sich seinem korrekten Gebrauch zu erinnern. Sonst wird man dem Problem irgendwann nicht mehr Herr und kann dem zweiten Fall nur noch wehmütig gedenken.
»Am Sonntag wird in Kampehl dem 354. Geburtstag von Ritter Kahlbutz mit einem Konzert gedacht«, meldete eine Berliner Tageszeitung am 3. März. Ich wusste zwar bis zu diesem Tage nicht, wo Kampehl liegt, und ich hatte auch keinen blassen Schimmer, wer Ritter Kahlbutz war. Immerhin aber wusste ich, dass Ritter Kahlbutz nicht der Ritter von der traurigen Gestalt war. Der nämlich kämpfte einst in Spanien gegen Windmühlen. Unser Ritter Kahlbutz hingegen scheint von der Presse nachträglich zum »Ritter von dem degenerierten Genitiv« stilisiert zu werden. Weswegen »ihm« ja auch gedacht werden muss.
Inzwischen habe ich mich natürlich schlau gemacht: Ritter Christian Friedrich von Kahlbutz lebte von 1651 bis 1702 im brandenburgischen Kampehl. 1690 war er des Totschlags angeklagt, erwirkte jedoch mittels eines Reinigungseides einen Freispruch. Vor Gericht soll er gesagt haben, wenn er »der Mörder dennoch gewesen sein soll, so wolle er nicht verwesen!«. Fast hundert Jahre nach seinem Tod fand man in der Gruft seine Mumie – und damit den Beweis für den Meineid. Die deutsche Sagenwelt ist seitdem um eine schaurig-schöne Geschichte reicher, und das beschauliche Dorf Kampehl hat eine Touristenattraktion ersten Ranges. Die deutsche Grammatik indes hat ein Problem – und zwar immer dann, wenn dem Ritter gedacht wird. Denn »gedenken« ist eines der (wenigen) deutschen Verben, die ein Genitivobjekt nach sich ziehen. Daher muss es richtig heißen: Es wird des Ritters gedacht. Oder wenigstens seines Geburtstages. In Abwandlung einer bekannten Werbekampagne für einen großen deutschen Fernsehsender ließe sich hier feststellen: Mit dem Zweiten klingt es besser!
Schauplatzwechsel: Im Februar 2005 fand in Magdeburg eine Kundgebung von Neonazis statt. Die Demonstranten trugen ein Spruchband vor sich her, auf dem zu lesen stand: »Wir gedenken den Opfern des alliierten Holocaust«. Da wird sich nicht nur mancher Lehrer spontan gedacht haben: »Geht erst mal nach Hause und macht eure Schulaufgaben!« Falsches Deutsch auf einem Spruchband einer von dümmlicher Deutschtümelei besoffenen Splittergruppe wirkt freilich besonders absurd. Doch die Herren Neonazis sind bei weitem nicht die Einzigen, die »dem« Genitiv nicht mehr mächtig sind.
Die Presse trägt nicht unwesentlich zur Verbreitung des Eindrucks bei, dass der Genitiv vom sprachlichen Spielfeld ausgewechselt und auf die Reservebank geschickt werden soll. »Als am Mittwoch der Bundestag seinem früheren Präsidenten Hermann Ehlers gedachte, hielt auch Merkel eine Rede«, konnte man auf einer Internet-Nachrichtenseite lesen. Bleibt nur zu hoffen, dass wenigstens Angela Merkel in ihrer Rede des Verstorbenen im richtigen Fall gedachte.
Auch das »Herr werden« ist eine verbale Konstruktion, in der der Genitiv (noch) herrscht, aber immer häufiger vom Dativ verdrängt wird. Als die Stadt Bern drastische Maßnahmen zur Bekämpfung einer Krähenplage beschloss, schrieb eine Hamburger Boulevardzeitung: »Um dem lauten Gekrächze und all dem Dreck Herr zu werden, setzt die Stadt nun rote Laserstrahlen gegen die schwarzen Vögel ein.« Eine andere große Tageszeitung rätselte nach der Flutkatastrophe in Südostasien darüber, »wie man dem Chaos Herr werden kann«. Und auch der »Spiegel« scheint den Genitiv für altmodisch zu halten. In einem Artikel über Rechtsextremismus war zu lesen: »PDS-Fraktionschef Peter Porsch glaubt nur noch mit einem erneuten Verbot dem Problem Herr zu werden.« Nicht erst seitdem zerbrechen sich Genitiv-Freunde den Kopf darüber, wie man des Problems hinter dem Herrwerden noch Herr werden kann.
»Sich einer Sache annehmen« ist ein weiterer Fall. »Die Stadt braucht einen Stadtbaumeister, der sich dem Thema Baukultur annehmen soll«, forderte eine Kölner Tageszeitung. Immerhin besaß sie die Größe, wenige Tage später einen Leserbrief
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