Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 2: Folge 2 (German Edition)
haben können!« – »Wenn du das Imperfekt unbedingt auf die Anklagebank setzen willst, dann lass mich etwas zu seiner Verteidigung sagen. Das Imperfekt in der Frage drückt respektvolle Distanz aus, daher ist es im Service so beliebt. Man will dem Kunden schließlich nicht zu nahe treten. ›Wie war Ihr Name?‹ klingt – zumindest in manchen Ohren – weniger direkt und somit höflicher als ›Wie ist Ihr Name?‹. Es ist dasselbe wie mit dem Konjunktiv. ›Ich will ein Glas Prosecco‹ klingt zu direkt, daher verkleidet man den Wunsch mit dem Konjunktiv, versieht ihn womöglich noch mit einem Diminutivum und sagt: ›Ich hätte gerne ein Gläschen Prosecco!‹« Erwartungsgemäß nutzt Henry diese Vorlage zu einem spöttischen Einwurf: »Au ja! Prosecco für alle!« Ich fasse zusammen: »Aus demselben Grund wird in der Frage das Imperfekt verwendet – aus Höflichkeit.« Henry verdreht schwärmerisch die Augen: »Das Imperfekt der Höflichkeit! Ein toller Titel! Klingt wie ›Der Scheineffekt der Wirklichkeit‹ oder ›Der Gipfel der Unsäglichkeit‹. Seine Vollendung findet es übrigens im berühmt-berüchtigten Imbiss-Deutsch: › Waren Sie das Schaschlik oder die Currywurst?‹«
Wir lassen es uns schmecken, und nachdem auch die zweite Flasche Wein geleert ist, gebe ich dem Kellner mit Handzeichen zu verstehen, dass er uns die Rechnung bringen möge. Einen Augenblick später ist er zur Stelle und fragt: »Die Herren wollten zahlen?« Und ehe ich Luft holen kann, platzt es aus Henry heraus: »Vor fünf Minuten wollten wir zahlen, und redlich, wie wir sind, wollen wir immer noch zahlen, und zwar so lange, bis wir tatsächlich gezahlt haben werden!« Der Kellner verzieht keine Miene: »Zusammen oder getrennt?« – »Zusammen!«, sage ich. »Du lädst mich ein?«, fragt Henry begeistert. »Wie komme ich zu der Ehre?« – »Das war ein Arbeitsessen«, erkläre ich, »daraus mache ich eine Kolumne.« – »Prima«, sagt Henry, »dann weiß ich auch schon was für unser nächstes Arbeitsessen! Da gehen wir zu meinem Koreaner. Der fragt nie: ›Was darf’s sein?‹ oder ›Was wünschen Sie?‹, sondern ›Was soll essen?‹. Darüber lässt sich prächtig philosophieren!«
Imperfekt oder Präteritum?
Frage eines Lesers aus Karlsruhe: Man kennt die Vergangenheit sowohl unter der Bezeichnung Imperfekt als auch unter der Bezeichnung Präteritum. Wieso gibt es zwei Begriffe für ein und dieselbe Zeitform? Ist unsere Grammatik nicht schon kompliziert genug? Oder gibt es da womöglich doch einen Unterschied?
Antwort des Zwiebelfischs: Imperfekt und Präteritum sind tatsächlich zwei unterschiedliche Namen für dasselbe Tempus. In den meisten Nachschlagewerken findet man unter dem Stichwort »Imperfekt« einen Hinweis auf den Eintrag »Präteritum«. Letzterer ist heute der üblichere Fachausdruck für das, was man auf Deutsch als »erste Vergangenheit« bezeichnet.
Die deutsche Sprachwissenschaft hat wesentliche Impulse von der französischen Philologie erhalten – und daher stammt auch die Bezeichnung Imperfekt (frz. imparfait), denn im Französischen wird zwischen einfacher Vergangenheit (passé simple) und unvollendeter Vergangenheit (imparfait) unterschieden. Diese Unterscheidung gibt es aber im Deutschen nicht. Wir haben kein »passé simple«, sondern nur eine (erste) Vergangenheitsform. Und eben diese als »unvollendet« zu bezeichnen, ist in den Augen vieler Deutschlehrer und Germanisten irreführend, denn die Vergangenheitsform, um die es hier geht, bezeichnet doch gerade einen Vorgang, der abgeschlossen ist:
Ich ging allein nach Hause.
Er aß nur einen Happen.
Wir warteten auf den Bus.
Was ist daran »unvollendet«? Als unvollendet kann die Handlung nur gedeutet werden, wenn sie sich zum Beispiel in einem Roman abspielt. Und die meisten Romane sind ja in der Vergangenheitsform geschrieben. Wenn man liest »Harry zog seinen Zauberstab«, dann ist die Handlung noch keinesfalls abgeschlossen, dann wird die Sache ja erst richtig spannend, und jeder will wissen: Was passierte als Nächstes?
Einen inhaltlichen Bezug zur Gegenwart hat die erste Vergangenheit aber nicht. Den wiederum hat das Perfekt, jene mit »haben« und »sein« gebildete Vergangenheitsform. Deshalb nennt man das Perfekt auf Deutsch auch »vollendete Gegenwart«. Wer seine Freunde und Bekannten über seinen Umzug informieren will, der schreibt in der Regel nicht »Wir zogen um«, auch wenn der letzte Karton bereits ausgepackt ist,
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