Der deutsche Goldrausch
nächsten Monate ausbluten lassen wird.
Detlef Scheunert glaubt, dass es bei den Sportpalast-Veranstaltungen in der Nazi-Zeit ähnlich gewesen sein muss. Die Menschen sind wie berauscht, sie skandieren wieder »Helmut! Helmut!«. Immer wieder spricht der Kanzler sie als »liebe Landsleute« an. Landsleute, wer hätte die Ostdeutschen sonst so genannt, fragt sich Scheunert und hört Kohl sagen: »Ich bin sicher, dass wir in wenigen Jahren unter der Voraussetzung einer vernünftigen Politik hier in Leipzig, in Sachsen und überall in der DDR erleben werden, dass auch hier ein Wirtschaftswunder möglich sein wird.« Und dann sagt er noch: »Es stehen Tausende von Unternehmungen in der Bundesrepublik bereit, weltweit operierende Konzerne und kleine Handwerksbetriebe, hierher zu kommen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.«
In Wahrheit sind die Konzerne schon lange da. Nicht nur die Deutsche Bank hat ihren Deal mit der Kreditbank von Edgar Most detailliert vorbereitet. Auch Siemens hat ein Büro »Verbindungsstelle DDR« in Berlin, das
Dossiers über interessante Ostbetriebe führt. 28 Der größte deutsche Elektronikhersteller konnte so bis zur Leipziger Messe bereits Verträge mit 26 ostdeutschen Unternehmen abschließen. Bisher hat das Unternehmen aus München gerade einmal Waren im Wert von 200 Millionen Mark in die DDR eingeführt. Das soll sich schnell ändern. Die Siemens-Strategen wissen zudem, dass die Infrastruktur, die Kraftwerke, die Telefonnetze in der DDR modernisiert werden müssen. Das sind Kerngebiete des Konzerns, der jedes Jahr über 60 Milliarden D-Mark umsetzt. Man hat bereits mit DDR-Ministerien ausgehandelt, in mehreren Städten das Telefonnetz auszubauen.
An Siemens wird auch die neue DDR-Regierung nicht vorbeikommen: Es gibt nur zwei Standards für Telefonvermittlungssysteme im Westen. Einen davon hat Siemens entwickelt. Der Konzernchef Karlheinz Kaske erwähnt in Interviews, dass es die wichtigste Aufgabe für die DDR-Regierung sei, das Telefonnetz auszubauen. 29 Er versichert, sein Konzern sei zunächst auch mit Beteiligungen von 24,5 Prozent an DDR-Unternehmen zufrieden. Mit mehreren Fabriken des Computerherstellers Robotron habe man Verträge abgeschlossen, darüber hinaus mit mehreren anderen Kombinaten, die Werkzeuge oder Nachrichtentechnik herstellen. Auch mit Handelsgesellschaften, die DDR-Produkte ins Ausland vertreiben, kooperiert Siemens bereits. 30
Nach der Messe bleibt Siemens in Leipzig. Im ehemaligen Volkseigenen Betrieb Starkstrom-Anlagenbau wird ein Büro eröffnet für das »Entscheidungsgremium zur Kooperation Siemens AG/Starkstrom-Anlagenbau GmbH«. Siemens will sich den VEB, der auf Kraftwerksbau spezialisiert ist, ganz genau ansehen.
Kaum ein Konzernvorstand in der Bundesrepublik hat nicht sofort begriffen, was der Fall der Mauer für das Geschäft bedeutet und was zu tun ist. Volkswagen hat den Bau eines Werks angekündigt. Thyssen hat bereits mehrere Kooperationsverträge abgeschlossen, darunter mit dem lukrativsten Unternehmen der DDR, dem Außenhandelsbetrieb Metallurgiehandel, der das Stahlgeschäft der DDR im Ausland abwickelt, über erhebliche liquide Mittel verfügt und einen Umsatz von 34 Milliarden Ostmark ausweist.
Die großen westdeutschen Energiekonzerne sind bereits seit Dezember 1989 aktiv. Da nicht auszuschließen ist, dass die Kraftwerke einzeln verkauft werden, haben westdeutsche Konzerne die Betriebsleiter vieler Werke Weihnachten 1989 zu privaten Feiern eingeladen, um sie an die potenziellen westdeutschen Partner zu binden. Die Preussag AG mietet Busse, mit denen sie
Emissäre in den Osten schickt. Sie besuchen ein Kraftwerk nach dem anderen und versuchen, die Kraftwerksleiter auf ihre Seite zu bringen. 31
Unmittelbar nach dem Mauerfall fahren Aufkäufer der westdeutschen Handelsketten durch die DDR und kaufen Großimmobilien auf. Ein Beauftragter der Realkauf-Kette sichert sich mit Hilfe des Generaldirektors des Kombinats WtB (Waren des täglichen Bedarfs) die Rechte an sieben großen Immobilien in Leipzig. 32 Eine Tochterfirma des Energiekonzerns VEBA – Raab Karcher – erwirbt ein Exklusivrecht in den größeren Städten Mecklenburg-Vorpommerns: Nur Raab darf hier Baumärkte errichten.
Die westdeutschen Konzerne nutzen das Machtvakuum aus, bevor die Wahlsieger die Situation beeinflussen können und die Treuhandanstalt überhaupt etabliert werden kann.
Offiziell sind zum Zeitpunkt der Leipziger Messe bereits 140 Unternehmen über 1100
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