Der deutsche Goldrausch
reden daher den Abgeordneten ein, dass im Energiesektor alles rasch geregelt werden müsse, sonst drohten den Ostdeutschen Stromausfälle und sie würden im Winter frieren. 12
Doch die westdeutschen Stromkonzerne sind sich nicht auf ganzer Linie einig. Die drei größten Stromanbieter, das sind die VEBA-Tochter PreussenElektra, RWE und die Bayernwerk AG, 13 haben sich zu einem Konsortium zusammengeschlossen, das den Energiesektor in der DDR komplett unter seine Kontrolle bringen und die fünf kleineren Anbieter ausschließen will. Das Konsortium setzt die Volkskammer und die neue DDR-Regierung im großen Stil unter Druck: Die großen Drei müssen den Zuschlag bekommen, sonst sei die Energieversorgung der DDR nicht gesichert.
Werner Schulz hat sich das anders vorgestellt. Er ist seit den sechziger Jahren aktives Mitglied der Bürgerrechtsbewegung. Seit dem Prager Frühling 1968 hat er immer wieder das SED-Regime kritisiert. Er ist in der Umweltbewegung aktiv und hat anders als etwa Gerd Gebhardt von der Forschungsgruppe keine akademische Karriere in der DDR machen können. Weil er gegen den Einmarsch der Sowjets in Afghanistan protestierte, wurde ihm seine Stelle an der Universität kurz vor der Abgabe seiner Dissertation gekündigt.
Schulz hatte gehofft, dass in einer demokratischen DDR die Wirtschaftspolitik transparenter sein würde als in Westdeutschland, hatte geglaubt, dass sich die Politik nach diesem einmaligen Neuanfang den Interessen der Konzerne nicht unterordnen müsse. Mehr Wettbewerb, ja, mehr freie Marktwirtschaft sollte es in der DDR geben. Und nun muss er mit ansehen, wie die Lobby der Volkskammer von Konzernvertretern belagert wird, wie man den Abgeordneten »Flöhe ins Ohr« setzt.
Schon am Runden Tisch hatten ihn die Vertreter der westdeutschen Banken gestört, die plötzlich am Rande der Sitzung auftauchten, sich vorstellten und ihre Kärtchen verteilten, »man könne ja mal reden, man solle in Kontakt bleiben«. Die Banken, so scheint es ihm, sind immer als Erste dort, wo es etwas zu verteilen gibt; sie scheinen die feinsten Antennen zu haben, die registrieren, wenn sich die Machtverhältnisse ändern und irgendwo Geld zu machen ist.
Auch Matthias Artzt von der Forschungsgruppe hatte auf eine freie Marktwirtschaft gehofft, an der die DDR-Bürger mit ihren Anteilsscheinen beteiligt sein würden. Doch nun muss er von Gerd Gebhardt, der inzwischen als Berater für verschiedene Parlamentarier arbeitet, erfahren, wie die westdeutschen Stromkonzerne Fakten geschaffen haben. Gebhardt hat vor wenigen Tagen mit einer Volkskammer-Delegation das Energiezentrum in der Karl-Liebknecht-Straße besucht. Von hier wird der Strom in einige Stadtteile von Berlin verteilt. Die Führung durch die Schaltzentrale übernimmt der Staatssekretär Uwe Pautz. Pautz hat einst selbst in einem Braunkohlekraftwerk gearbeitet, ist Mitglied des Demokratischen Aufbruchs, sitzt am Runden Tisch und will trotzdem vor allem eines: die schnelle Einheit.
Staatssekretär Pautz führt der Delegation vor, wie effizient alles sein werde, wenn die großen Drei aus dem Westen die Stromverteilung übernehmen. Die Konzerne würden der DDR damit einen »Riesengefallen« erweisen. Gebhardt fragt daraufhin: Und warum hat man den Konzernen die Netze gleich mit versprochen? Weil auch das effizienter sei, antwortet der
Staatssekretär, man habe damit endlich den fürchterlichen Zentralismus beseitigt.
Dann zeigt Pautz, um den Fortschritt zu illustrieren, der Delegation die Schaltzentrale des Zentrums: Die Schaltkästen sind schon abgebaut. Die Versorgung kann nur noch durch den Westen und die Stromriesen, die dort das Netz kontrollieren, sichergestellt werden. Die DDR ist jetzt bereits abhängig von den großen Drei aus dem Westen. Tatsächlich wollen die westdeutschen Stromkonzerne das Verteilungsnetz kontrollieren, um Schritt für Schritt auch den Osten Europas zu erobern. Das wollen Schulz und andere Volkskammer-Abgeordnete nicht akzeptieren. Sie beschließen, gegen die Stromkonzerne anzukämpfen.
Der Goldrausch, der die deutschen Konzerne seit dem Mauerfall erfasst hat, wird allmählich offenbar und öffentlich diskutiert. Anfang April gibt der Chef des westdeutschen Kartellamts, Wolfgang Kartte, dem Magazin »Der Spiegel« ein Interview. Er wird gefragt, ob er sich den Übergang zur Marktwirtschaft in der DDR so chaotisch vorgestellt habe. Kartte antwortet: »Ich habe doch Ludwig Erhard gelesen. Er hat 1953 schon geschrieben, daß
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