Der deutsche Goldrausch
schlürfen laut ihren Tee und gucken unbewegt. Wild fragt, was sie denn kaufen wollen, man habe so einiges im Angebot: Werften, Chemiewerke, Hotels? Da schnippst der Vizepräsident mit den Fingern, ein Assistent von ganz rechts tritt nach vorn, verneigt sich mehrmals und rollt dann eine Karte auf dem Konferenztisch aus. Scheunert und Wild gucken interessiert auf das Dokument. Sie erkennen den Potsdamer Platz, das riesige, brachliegende Areal an der Berliner Mauer neben dem Brandenburger Tor. Die Nomura-Vertreter wollen den ganzen Platz kaufen. Scheunert hat das Gefühl, einem »Besuch von der Venus« beizuwohnen. Die japanische Delegation reist ohne Kaufvertrag wieder ab.
An jedem Tag wird Scheunert aufs Neue beeindruckt. Er lernt beständig etwas über die Marktwirtschaft, das neue System, hinzu. Nicht immer verlaufen die »Meetings« jedoch so kontrolliert wie der Besuch der Japaner.
Klaus-Peter Wild ist unter anderem für Pentacon zuständig, ein Volkseigener Betrieb aus Dresden, der die Praktica-Spiegelreflexkameras herstellt. Die Kameras sind im Westen sehr beliebt. Sie sind mechanisch, exakt, mit guten Objektiven der Firma Zeiss ausgestattet und dennoch preiswert.
Trotzdem sind die meisten Arbeiter im September auf Kurzarbeit gesetzt. Die Treuhand hatte nicht, wie von der Belegschaft erhofft, so viel Geld in den Betrieb geschossen, dass dieser normal weiterproduzieren konnte. Da die Betriebsleiter oder, wie sie nun heißen, Geschäftsführer es gewohnt waren, an die Zentrale Daten zu melden, die durchaus nicht der Wahrheit entsprachen, überweist die Treuhandzentrale pauschal nur einen Teil der geforderten Summe. 1 Niemand in der unterbesetzten Treuhand hat Zeit, jeden einzelnen Antrag zu prüfen. Scheunert kennt ein weiteres Problem der Firma noch aus seiner Ministerialzeit: Pentacon macht seit langem Verluste, was aber in der ostdeutschen Volkswirtschaft verschleiert wurde. Die Kameras wurden so billig an den Westen verkauft, dass sie die Herstellungskosten seit einem Jahrzent nicht mehr deckten. Billigfotoketten vertrieben die gut gemachten Kameras unter ihrem eigenen Namen im Westen, darunter die Kette Photo Porst. 2 Die Kameras werden in Dresden und andernorts noch immer in aufwändiger Handarbeit zusammengebaut, aber ohne digitalen Belichtungsmesser, der bei japanischen Modellen und westdeutschen Herstellern schon lange Standard ist. Das erfolgreichste Exportmodell basiert auf einer Entwicklung von 1978. Scheunert und Wild ahnen, dass Pentacon kaum zu halten ist, wenn man einen Preis verlangt, der die Produktionskosten deckt.
Die Pentacon-Betriebsräte sind mehrmals am Alexanderplatz, um mit Wild zu verhandeln. Westdeutsche Unternehmensberater klinken sich ein und entwickeln Zukunftskonzepte für Pentacon. Wild und Scheunert bleiben skeptisch. Auf dem Pentacon-Gelände in Dresden wird eine Puppe an einem Galgen aufgehängt, um ihren Hals ein Schild: »So wollen wir nicht enden.« 3
Am Mittwoch, dem 12. September, halten die ersten ostdeutschen Arbeitnehmer nicht mehr still. Zunächst demonstrieren die Mitarbeiter der Interhotel AG auf dem Alexanderplatz vor dem »Hotel Berlin«. Dann wechseln die Demonstranten die Straßenseite. Sie wollen mit einem Verantwortlichen von der Treuhand sprechen. Die Verträge mit der Steigenberger-Gruppe liegen noch immer auf Eis, die Angestellten in den Hotels haben Angst um ihre Arbeitsplätze. Sie halten ein selbst gemaltes, schlichtes Plakat in die Höhe: »Sozialabbau + Unternehmenszerstörung = Treuhand«.
Ein Gewerkschaftsvertreter spricht in ein Megaphon: »Ich vermute, wenn die uns nicht einladen, werden wir uns eben selber einladen müssen.« 4 Die Menge klatscht, johlt und drängt dann in das Foyer am Alexanderplatz 6, wo sich vor gut zwei Monaten die Menschen schon einmal hineingeschoben haben, um sich bei der Deutschen Bank die ersten D-Mark-Scheine auszahlen zu lassen.
Die Interhotel-Mitarbeiter, in der Mehrheit Frauen, werden zum Büro von Detlev Karsten Rohwedder vorgelassen. Sie sammeln sich vor der Tür von Zimmer 847. Rohwedder tritt heraus, neben ihm Wild, in sich gekehrt und vorgebeugt. Die große Hornbrille ist ihm tief auf die Nase gerutscht. Wild ist dürr und groß gewachsen, hat schütteres graues Haar. Er blickt ernst auf die Versammlung im Flur. Dabei hält er mit der rechten Hand sein Revers fest. Er strahlt nicht so viel Selbstbewusstsein wie andere Vorstände der Treuhand aus.
Rohwedder erklärt den Besuchern ohne Termin: »Wir
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