Der deutsche Goldrausch

Treuhandpräsidenten am Donnerstag nach Hause bringen, erzählt Hergard Rohwedder ihnen, dass sich »etwas zusammenbraut«. Sie sei um zwei Uhr am Morgen angerufen worden, niemand hätte sich am anderen Ende gemeldet. Auch hätte es eines Nachts an der Gartenpforte geklingelt. Die Beamten erklären, dass sie nicht die ganze Zeit mit einem Boot auf dem Rhein auf und ab fahren können. Der Treuhandpräsident sei durch das »Fahndungskonzept 106« erfasst, und das sieht vor, dass gefährdete Personen durch verdeckte Ermittlungen geschützt werden in der Annahme, dass sie vor der Tat ausgespäht werden. Frau Rohwedder wäre ein Wachposten vor dem Haus lieber.

    Als die Rohwedders am Sonntag von einer Trauerfeier aus Essen zurückkehren, fällt ihnen ein Jeep neben dem Haus auf, in dem ein Pärchen sitzt. Hergard Rohwedder will nachfragen, wer die beiden sind, doch Rohwedder bittet sie, ins Haus zu kommen.
    Gegenüber der Villa, auf der anderen Straßenseite, wachsen Pappeln, dahinter fällt ein grasbewachsener Wall ab, so dass es aussieht, als lägen die Häuser und die Straße auf einem Deich. Am Fuß der Böschung verläuft ein Trampelpfad an großzügigen Schrebergärten entlang. Von dem Schrebergarten aus, der genau gegenüber der Rohwedder-Villa liegt, sieht man die drei Fenster im ersten Stockwerk des Hauses, die untere Etage wird von dem Wall verdeckt. Nur im Winter, wenn die Pappeln keine Blätter tragen, hat man einen freien Blick auf die Sprossenfenster im ersten Stock. Das ungefähr ist die Perspektive des Schützen, der sich in der Nacht zum Ostermontag in dem Schrebergarten versteckt hält. Im Dunkeln hat er oder sie einen guten Blick auf die erleuchteten Fenster. Indem der Wall die Sicht auf das Haus nach unten begrenzt, wird sie gleichzeitig nach oben konzentriert.
    Um 20.10 Uhr fährt zum letzten Mal routinemäßig eine Polizeistreife am Haus der Rohwedders vorbei. Um 23.45 Uhr soll der nächste Wagen die Straße abfahren. Personenschützer rund um die Uhr, wie in Berlin, hat Rohwedder hier nicht.
    Um 23.30 Uhr steht Detlev Karsten Rohwedder in seinem Arbeitszimmer im rechten Teil des oberen Stockwerkes. Er macht das Licht an. Rohwedder muss in diesem Moment sehr gut für den Schützen im Schrebergarten zu erkennen sein, der sich etwa 63 Meter entfernt versteckt hält. Der Schütze feuert. Die Kugel durchschlägt das Glas. Der Schuss trifft Rohwedder in den Rücken. Das Geschoss zerreißt die Aorta, die Luft- und die Speiseröhre.
    Hergard Rohwedder hört den Schuss und läuft zu ihrem Mann in das Arbeitszimmer. Der Schütze feuert noch einmal. Der Schuss wird durch ein in Plexiglas gegossenes Buch aus Draht abgelenkt und zerschmettert Hergard Rohwedders linken Ellenbogen. Der dritte Schuss schlägt in einem Bücherregal neben ihrem Kopf ein. Es gibt im oberen Stockwerk des Hauses einen Notfallknopf, der sofort die Polizei alarmiert. Doch die unter Schock stehende Hergard Rohwedder schleppt sich ins Erdgeschoss zum Telefon, um von dort den Notruf, 112, anzurufen. Mehrere Minuten vergehen.
    Die nächste Polizeiwache ist nur einen Kilometer vom Tatort entfernt, zudem patrouilliert eine Streife in der Nebenstraße. Kurz vor Mitternacht sind die ersten Polizisten von der Wache aus Oberkassel am Tatort. Eine
Ringfahndung wird ausgelöst, aber erst nach Mitternacht, also 30 Minuten nach den Schüssen, sind die Straßensperren in der Umgebung aufgebaut.
    Der Kaiser-Friedrich-Ring 71 in Oberkassel liegt zwischen zwei Rheinbrücken, der Oberkasseler Brücke im Süden und der Theodor-Heuss-Brücke im Norden. Über die Theodor-Heuss-Brücke gelangt man zur Danziger Straße, die wiederum weiter im Norden auf die A 44 trifft. Vom Tatort bis zur Autobahn braucht man in der Nacht keine zehn Minuten. 23
     
    Um 0.45 Uhr meldet sich ein Mann telefonisch bei der Nachrichtenagentur Agence France Presse (AFP) in Paris. Der AFP-Redakteur Nicola Botzev nimmt das Gespräch an. Der unbekannte Mann sagt erst auf Deutsch, dann auf Englisch: »Hier ist die Rote Armee Fraktion. Wir haben jemand Wichtiges in Düsseldorf getötet.« 24
    Um 1.09 Uhr meldet die dpa die Ermordung Detlev Karsten Rohwedders. Der Treuhandpräsident ist seiner Schussverletzung erlegen, noch bevor der Notarzt am Tatort eintrifft. Um 1.25 Uhr übernimmt die Bundesanwaltschaft offiziell das Verfahren.
    Die Ermittler am Tatort finden in der Nacht in dem Schrebergarten neben einem schwarzen Campingstuhl drei Patronenhülsen, Kaliber 7,62 × 51 mm.