Der Distelfink
Ist mir ein Vergnügen. Ich habe alles über dich gehört. « Sie war ein Stückchen größer als er, mit langem weichem Haar und einem geschmeidigen, schwarz gekleideten Körper wie eine Python. » Ich bin Myriam. «
» Myriam? Hi! Eigentlich heiße ich Theo. «
» Ich weiß. « Ihre Hand in meiner war kalt. Ich bemerkte ein blaues Pentagramm, das auf die Innenseite ihres Handgelenks tätowiert war. » Aber er spricht von dir als Potter. «
» Er spricht von mir? Ach ja? Was hat er denn gesagt? « Seit Jahren hatte mich niemand mehr Potter genannt, doch ihre weiche Stimme erinnerte mich an ein vergessenes Wort aus den alten Büchern, die Sprache der Schlangen und dunklen Zauberer, Parsel.
Boris, der vor ihrem Auftauchen gerade seinen Arm um meine Schulter gelegt hatte, ließ mich sofort los, als ob sie ein Codewort gesagt hätte. Die beiden wechselten einen Blick– dessen Essenz ich aus unseren Ladendiebstahlstagen sofort wiedererkannte, als wir uns wortlos mitteilen konnten Los, weg hier oder Er kommt –, und Boris, der nervös wirkte, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und blickte mich eindringlich an.
» Bleibst du noch hier? « , fragte er und fing an rückwärtszugehen.
» Wo hier? «
» In der Gegend. «
» Kann ich machen. «
» Ich möchte « , er blieb stehen, runzelte die Stirn und blickte über meinen Kopf hinweg die Straße hinunter, » ich möchte mit dir reden. Aber jetzt « , er schien besorgt, » kein guter Zeitpunkt. In einer Stunde vielleicht? «
Myriam sah mich an und sagte etwas auf Ukrainisch. Es gab einen kurzen Wortwechsel. Dann hakte Myriam sich eigenartig vertraut bei mir unter und begann, mich die Straße entlangzuführen.
» Dort. « Sie wies in die Richtung. » Vier oder fünf Blocks weiter direkt an der 2nd Street ist eine Bar. Alter polnischer Laden. Dort wird er dich treffen. «
V
Fast drei Stunden später saß ich immer noch auf einer roten Kunstlederbank in der Polen-Bar, blinkende Weihnachtsbeleuchtung, eine nervtötende Mischung aus Punk und Weihnachtspolka aus der Jukebox. Ich hatte die Nase voll vom Warten und fragte mich, ob er noch aufkreuzen würde oder ob ich vielleicht einfach nach Hause gehen sollte. Ich hatte nicht mal seine Nummer– es war alles so schnell gegangen. Früher hatte ich Boris manchmal zum Spaß gegoogelt– und nie auch nur ein leises Raunen von ihm gefunden–, doch ich glaubte sowieso nicht daran, Boris könnte ein Leben führen, dem man online auf die Spur käme. Er hätte überall sein und alles Mögliche tun können: Krankenhausfußböden wischen, mit einem Gewehr durch einen exotischen Dschungel streifen, Zigarettenstummel von der Straße auflesen.
Die Happy Hour ging gerade zu Ende, ein paar Studenten und Künstlertypen gesellten sich zu den schmerbäuchigen Polen und ergrauten Punks in dem Schuppen. Ich hatte gerade meinen dritten Wodka geleert, der in großzügigen Portionen ausgeschenkt wurde, einen weiteren zu bestellen, wäre unvernünftig. Ich wusste, dass ich etwas essen sollte, doch ich hatte keinen Hunger, und meine Stimmung wurde mit jeder Minute trostloser und düsterer. Der Gedanke, dass er mich nach so vielen Jahren einfach versetzte, war unglaublich deprimierend. Philosophisch betrachtet, war ich wenigstens von meiner Heroin-Mission abgebracht worden: Ich hatte keine Überdosis genommen und nicht in eine Mülltonne gekotzt, war nicht abgezockt oder bei dem Versuch verhaftet worden, Stoff bei einem Undercover-Bullen zu kaufen…
» Potter. « Da war er, rutschte auf die Bank mir gegenüber und schleuderte sich das Haar aus dem Gesicht, eine Bewegung, die alle Glocken der Vergangenheit zum Klingen brachte.
» Ich wollte gerade gehen. «
» Tut mir leid. « Dasselbe dreckige, charmante Lächeln. » Hatte noch was zu tun. Hat Myriam nichts gesagt? «
» Nein, hat sie nicht. «
» Na ja. Ist nicht so, dass ich arbeite in Buchhaltung. Hey « , sagte er, und er beugte sich vor und legte die Hände flach auf den Tisch, » sei nicht sauer! Hab nicht damit gerechnet, dir über den Weg zu laufen! Ich bin gekommen, so schnell ich konnte! Bin praktisch gerannt! « Er streckte die Hand aus und gab mir einen leichten Klaps auf die Wange. » Mein Gott! So lange Zeit! Froh, dich zu sehen! Du bist nicht froh, mich zu sehen auch? «
Als Erwachsener sah er gut aus. Selbst in seiner schlaksigsten und ausgezehrtesten Phase hatte er immer etwas liebenswert Gerissenes an sich gehabt, lebendige Augen und eine wache Intelligenz, aber diesen
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