Der Distelfink
halb verhungerten Rohzustand hatte er hinter sich gelassen, und alles andere hatte sich auf die richtige Weise gefügt. Seine Haut war wettergegerbt, doch seine Kleidung saß gut: ein Konzertpianist als Kavallerieheld. Seine winzigen grauen unregelmäßigen Zähne waren– unübersehbar– durch einer Reihe weißer amerikanischer Standardkronen ersetzt worden.
Er sah, dass ich hinschaute, und schnippte mit dem Daumennagel an einen prachtvollen Schneidezahn. » Neue Beißer. «
» Hab’s gesehen. «
» Von Zahnarzt in Schweden. « Boris winkte einem Kellner. » Hat mich verdammtes Vermögen gekostet. Meine Frau hat keine Ruhe gegeben– Borja, deine Zähne, abscheulich! Ich hab immer gesagt, das mach ich nicht, nie im Leben, aber besser hab ich mein Geld nie angelegt. «
» Wann hast du denn geheiratet? «
» Hä? «
» Du hättest sie ruhig mitbringen können. «
Er sah mich überrascht an. » Was, Myriam meinst du? Nein, nein. « Er zog sein Handy aus der Tasche seiner Anzugjacke und drückte auf den Tasten herum. » Myriam ist nicht meine Frau! Das hier « , er reichte mir das Telefon, » das ist meine Frau. Was trinkst du? « , fragte er, bevor er sich auf Polnisch an den Kellner wandte.
Das Foto auf dem iPhone zeigte ein schneebedecktes Ferienhaus, vor dem eine schöne Blonde auf Skiern stand. Neben ihr, ebenfalls auf Skiern, standen zwei kleine blonde, dick eingemummelte Kinder unbestimmbaren Geschlechts. Es sah nicht wie ein Schnappschuss aus, sondern eher wie Werbung für irgendein gesundes Schweizer Produkt, Joghurt oder Bircher-Müsli.
Ich sah ihn verblüfft an. Er wandte mit einer seiner alten russischen Gesten den Blick ab: Tja, nun, es ist, wie es ist.
» Deine Frau ? Im Ernst? «
» Ja « , sagte er und zog die Brauen hoch. » Und meine Kinder. Zwillinge. «
» Verdammt. «
» Ja « , sagte er mit Bedauern. » Geboren, als ich noch sehr jung war– zu jung. War keine gute Zeit– sie wollte sie behalten– ›Borja, wie kannst du nur? ‹ – was sollte ich sagen? Um ehrlich zu sein, ich kenne sie nicht so gut. Den Kleinen– er ist nicht auf dem Bild– aber den Kleinen habe ich überhaupt noch nicht gesehen. Ich glaube er, ist erst– was? sechs Wochen alt? «
» Was? « Ich schaute das Bild noch einmal an und bemühte mich, diese gesunde nordische Familie in Einklang mit Boris zu bringen. » Bist du geschieden? «
» Nein nein nein. « Der Wodka war gekommen, eine eisgekühlte Karaffe und zwei winzige Gläser. Er goss uns beiden ein. » Astrid und die Kinder sind meistens in Stockholm. Manchmal kommt sie im Winter nach Aspen, zum Skilaufen. Sie war Skilauf-Champion, hat sich mit neunzehn qualifiziert für die Olympiade… «
» Ach ja? « Ich tat mein Bestes, um nicht so zu klingen, als glaubte ich ihm nicht. Bei genauerem Hinsehen war ziemlich klar, dass die Kinder viel zu blond und hübsch waren, um auch nur entfernt mit Boris verwandt zu sein.
» Ja, ja « , sagte Boris mit energischem Kopfnicken. » Sie muss immer da sein, wo man Ski läuft– und du kennst mich ja, ich hasse den beschissenen Schnee, ha! Ihr Vater ist sehr, sehr rechts– praktisch ein Nazi. Ich denke, kein Wunder, dass Astrid Probleme mit Depressionen hat mit Vater wie ihm! So ein hasserfüllter alter Drecksack! Aber sie sind alle sehr unglückliche und traurige Leute, diese Schweden. In einer Minute lachen und trinken und in der nächsten– Dunkelheit, kein Wort. Dzi ę kuję « , sagte er zu dem Kellner, der mit einem Tablett mit kleinen Tellern zurückgekehrt war: Schwarzbrot, Kartoffelsalat, zwei Sorten Hering, Gurke in Sauerrahm, Kohlrouladen und ein paar Soleier.
» Ich wusste nicht, dass man hier essen kann « , sagte ich.
» Kann man auch nicht « , sagte Boris, strich Butter auf eine Scheibe Schwarzbrot und bestreute sie mit Salz. » Aber ich bin am Verhungern. Hab sie gebeten, was von nebenan zu bringen. « Er stieß mit seinem Schnapsglas klirrend an meins. » Sto let! « , sagte er– sein alter Trinkspruch.
» Sto let. « Der Wodka schmeckte aromatisch nach einem bitteren Kraut, das ich nicht identifizieren konnte.
» Also « , sagte ich und nahm mir etwas von dem Essen. » Myriam? «
» Hä? «
Ich streckte ihm die offenen Handflächen entgegen, eine Geste aus unserer Kindheit: Bitte erklär’s mir.
» Ah, Myriam! Sie arbeitet für mich! Mein zweiter Mann als rechte Hand, so heißt das doch. Obwohl, ich sage dir, sie ist besser als jeder Mann, den du finden kannst. Was für eine Frau, mein
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