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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Streitereien, Weihrauchwolken von einem Straßenhändler–, spürte ich, wie meine Laune sich besserte. Meine Toleranz war inzwischen garantiert sehr niedrig, ein aufmunternder Gedanke. Nur ein oder zwei Tabletten die Woche, damit ich die schlimmsten gesellschaftlichen Anlässe überstand, und auch nur dann, wenn ich sie sonst gar nicht aushielt. Anstelle der Pharmazeutika hatte ich in letzter Zeit zu viel getrunken, und das funktionierte für mich nicht wirklich, aber mit den Opiaten war ich entspannt, ich war tolerant, zu allem imstande, ich konnte in unerträglichen Situationen stundenlang herumstehen und mir freundlich jeden ermüdenden oder albernen Mist anhören, ohne dass ich rauslaufen und mir eine Kugel in den Kopf schießen wollte.
    Aber ich hatte Jerome schon lange nicht mehr angerufen, und als ich mich im Eingang eines Skater-Shops unterstellte und seine Nummer wählte, wurde ich direkt an die Mailbox weitergeleitet– eine mechanische Ansage, die nicht nach ihm klang. Hatte er eine neue Nummer, fragte ich mich und begann nach dem zweiten Versuch, mir Sorgen zu machen. Leute wie Jerome– das Gleiche war vor ihm mit Jack passiert– konnten selbst bei regelmäßigem Kontakt ziemlich plötzlich von der Bildfläche verschwinden.
    Weil ich nicht wusste, was ich machen sollte, lief ich den St. Mark’s Place Richtung Tompkins Square hinunter, 24Stunden geöffnet. Einlass ab 21Jahren. Downtown, wo es keine Wolkenkratzerschluchten gab, wehte der Wind zwar beißender, doch der Himmel war offener, und man konnte freier atmen. Muskeltypen führten Pittbull-Pärchen spazieren, angemalte Bettie-Page-Girls in knallengen Kleidern, stolpernde Penner, die Hose auf Halbmast, mit Kürbislaternengebiss und geklebten Schuhen. Vor den Läden Ständer mit Sonnenbrillen, Schädelanhängern und bunten Transvestiten-Perücken. Irgendwo in der Nähe gab es eine Fixerstube, vielleicht sogar mehr als eine, aber ich wusste nicht genau, wo; Wall-Street-Typen kauften dauernd Stoff auf der Straße, wenn man glauben konnte, was die Leute erzählten, aber ich war nicht erfahren genug, um zu wissen, wohin ich gehen oder wen ich ansprechen musste. Und außerdem– wer würde mir etwas verkaufen, einem Fremden mit Hornbrille und Uptown-Frisur, angezogen, um mit Kitsey Hochzeitsgeschirr auszusuchen?
    Unruhiges Herz. Der Fetisch der Heimlichkeit. Diese Leute verstanden– wie ich– die Gassen und Hinterhöfe der Seele, Flüstern und Schatten, Geld, das verstohlen von Hand zu Hand wechselte, das Passwort, der Code, das zweite Ich, all die verborgenen Tröstungen, die das Leben über das Gewöhnliche hinaushoben und lebenswert machten.
    Jerome– vor einer billigen Sushi-Bar blieb ich auf dem Bürgersteig stehen, um mich zu orientieren–, Jerome hatte mir von einer Bar mit roter Markise irgendwo um den St. Mark’s Place erzählt, vielleicht in der Avenue A? Er war jedes Mal von dort gekommen oder auf dem Weg dorthin. Die Barkeeperin dealte über den Tresen an Kunden, die nichts dagegen hatten, den doppelten Preis zu bezahlen, wenn sie dafür nicht auf der Straße kaufen mussten. Jerome war immer auf dem Weg, sie zu beliefern. Sie hieß– ich erinnerte mich sogar an ihren Namen– Katrina! Aber offenbar war jeder zweite Laden in der Straße eine Bar.
    Ich ging die Avenue A hinauf und die 1st Street hinunter, betrat die erste Bar mit einer auch nur entfernt roten Markise– ein eher leberfarbener Ton, aber vielleicht war sie einmal rot gewesen– und fragte: » Arbeitet Katrina hier? «
    » Nee « , sagte die attraktive Rothaarige hinter der Bar, ohne mich anzusehen, während sie weiter ein Bier zapfte.
    Schlafende Stadtstreicherinnen, den Kopf auf ihr Bündel gebettet. Im Fenster glitzernde Madonnas und mexikanische Totentags-Figuren. Graue Taubenschwärme, die lautlos flatterten.
    » Du weißt, du denkst drüber nach, du weißt, du denkst drüber nach « , sagte eine Stimme leise in mein Ohr…
    Ich drehte mich um und sah einen sturzbesoffenen, schwergewichtigen, breit lächelnden Schwarzen mit einem goldenen Vorderzahn, der mir eine Visitenkarte in die Hand drückte: TATTOOS BODY ART PIERCING .
    Ich lachte– er auch, ein sattes volles Lachen, wir freuten uns beide über den Witz–, schob die Karte in die Tasche und ging weiter. Aber im nächsten Moment bereute ich, ihn nicht gefragt zu haben, wo ich finden konnte, was ich suchte. Selbst wenn er es mir nicht gesagt hätte, sah er aus, als ob er es wüsste.
    Body Piercing. Akupressur

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