Der Distelfink
Delirium hatte mich seit meiner Kindheit auf seiner langsamen, entspannten Welle vorankreiseln lassen, high und auch auf dem Zottelteppich in Las Vegas liegend, wo ich zum Deckenventilator hinaufschaute, nur dass ich jetzt nicht mehr lachte: Rip van Winkle, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf hielt, auf dem Boden, ungefähr hundert Jahre zu spät.
Wie sollte das wieder in Ordnung gebracht werden? Es war unmöglich. In gewisser Weise hatte Boris mir einen Gefallen getan, als er das Ding genommen hatte– zumindest wusste ich, dass die meisten Leute es so sehen würden. Ich war aus dem Schneider. Niemand konnte mir etwas vorwerfen, der größte Teil meiner Probleme war mit einem Schlag gelöst, aber obwohl ich wusste, dass jeder geistig halbwegs gesunde Mensch erleichtert sein würde, das Bild losgeworden zu sein, war ich doch noch nie so versengt von Verzweiflung gewesen, von Selbsthass und Scham.
Warmer, ermüdender Laden. Ich konnte nicht stillhalten; ich stand auf und setzte mich wieder hin. Alles war durchtränkt von Grauen. Eine Pulcinella aus Biskuitporzellan beäugte mich bösartig. Sogar die Möbel sahen kränklich und unproportioniert aus. Wie hatte ich glauben können, ich sei ein besserer Mensch, ein klügerer Mensch, höherstehend, wertvoller, des Lebens würdiger– nur wegen des Geheimnisses, das ich uptown verwahrte? Und doch war es genau so. Das Bild hatte mir das Gefühl gegeben, weniger sterblich, weniger gewöhnlich zu sein. Es war mir Stütze und Rechtfertigung, mein Unterhalt, meine Summe. Der Grundpfeiler, der die ganze Kathedrale aufrechthielt. Und es war furchtbar, erkennen zu müssen– indem es mir so unvermittelt unter den Füßen weggerissen wurde–, dass ich mein ganzes Erwachsenenleben lang insgeheim von dieser großen, wilden, verborgenen Freude getragen worden war: von der Überzeugung, dass mein ganzes Leben auf der Spitze eines Geheimnisses im Gleichgewicht gehalten wurde, das die Sprengkraft besaß, dieses Leben jeden Augenblick in Stücke zu zerfetzen.
XI
Als Hobie gegen zwei nach Hause kam, betrat er das Haus unter Glöckchengeklingel wie ein Kunde.
» Na, das war ja wirklich eine Überraschung gestern Abend. « Vom Regen waren seine Wangen rot; er streifte den Regenmantel von den Schultern und schüttelte die Tropfen ab. Er war für das Auktionshaus gekleidet und trug eine Krawatte mit Windsor-Knoten und einen seiner schönen alten Anzüge. » Boris! « Die Auktion war gut verlaufen, das merkte ich an seiner Stimmung. Er neigte dazu, nicht gleich mit hohen Geboten einzusteigen, aber er wusste, was er haben wollte, und ab und zu, wenn das Geschäft verhalten lief und niemand sich mit ihm anlegte, kam er mit einem Berg von schönen Dingen zurück. » Ich nehme an, ihr beide habt die Nacht hindurch gefeiert? «
» Ah. « Ich hockte geduckt in einer Ecke und nippte an einer Tasse Tee. Ich hatte rasende Kopfschmerzen.
» Komisch, ihn kennenzulernen, nachdem ich so viel von ihm gehört hatte. Als träfe man eine Gestalt aus einem Buch. Ich habe ihn mir immer vorgestellt wie den Artful Dodger aus Oliver Twist – ach, du weißt schon–, den kleinen Jungen, den Straßenbengel, wie heißt der Schauspieler gleich? Jack So-und-so. Zerlumpter Mantel. Dreck auf der Wange. «
» Glaub mir, damals war er ziemlich dreckig. «
» Na, es ist so, Dickens erzählt uns nicht, was aus dem Dodger wird. Vielleicht ist er ein achtbarer Geschäftsmann geworden– wer weiß? Und war Popper nicht völlig von Sinnen? Noch nie habe ich ein Tier so glücklich gesehen.
Ach so, ja « , er drehte sich halb um, mit seinem Mantel beschäftigt, und hatte nicht bemerkt, dass ich erstarrte, als ich Poppers Namen hörte, » bevor ich es vergesse: Kitsey hat angerufen. «
Ich antwortete nicht. Ich konnte nicht. Ich hatte nicht ein einziges Mal an Popper gedacht.
» Eher spät– so gegen zehn. Ich hab ihr gesagt, du hättest Boris getroffen, du seist vorbeigekommen und weggegangen. Das war hoffentlich in Ordnung. «
» Natürlich « , sagte ich nach einer angestrengten Pause. Ich hatte Mühe, meine Gedanken zusammenzuhalten, denn sie wollten in mehrere unangenehme Richtungen gleichzeitig davongaloppieren.
» Woran muss ich dich noch erinnern? « Hobie legte einen Finger an die Lippen. » Ich habe einen Auftrag. Lass mich nachdenken.
Es fällt mir nicht ein « , sagte er dann, leise erschrocken, und schüttelte den Kopf. » Du wirst sie anrufen müssen. Ein Essen heute Abend, das weiß ich,
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