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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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vorbeigekommen wäre. Ich hätte da draußen schlafen können. Wenn ich einen Schlafsack mitgenommen hätte. «
    » Darauf gehe ich gar nicht ein. Du warst irre. Du hättest uns beide umbringen können. Einmal nachts hast du Streichhölzer geholt und versucht, das Haus anzuzünden, weißt du noch? «
    » Ich hab nur Spaß gemacht « , sagte ich voller Unbehagen.
    » Und der Teppich? Das Riesenbrandloch im Sofa? War Spaß? Ich hab die Polster umgedreht, damit Xandra es nicht sieht. «
    » Das Scheißding war so billig, dass es nicht mal schwer entflammmbar war. «
    » Ja, ja. Ganz, wie du willst. Jedenfalls, dieser eine Abend. Wir haben Dr. No gesehen; ich kannte ihn noch nicht, aber du, und mir gefiel er sehr. Du warst total w gawnó, und dann ist er auf seiner Insel, alles cool, und er drückt auf den Knopf und zeigt das Bild, das er gestohlen hat? «
    » O Gott. «
    Boris gackerte. » Hast du getan! Gott sei dir gnädig! Es war toll. So besoffen, dass du torkelst– ich muss dir was zeigen! Was Wunderbares! Das Beste, was du je gesehen hast! Stellst dich vor den Fernseher. Nein, wirklich! Ich– ich gucke den Film, den besten Teil, und du hältst nicht die Schnauze. Verpiss dich! Jedenfalls, du ziehst ab, stinksauer, › leck mich am Arsch ‹ , machst Riesenlärm. Bamm bamm bamm. Und dann kommst du runter mit dem Bild, verstehst du? « Er lachte. » Komisch ist, ich war sicher, du willst mich verarschen. Weltberühmtes Museumsstück? Ich bitte dich. Aber– es war echt. Konnte jeder sehen. «
    » Ich glaube dir kein Wort. «
    » Ist aber wahr. Ich hab’s gesehen. Denn wenn man könnte Fälschung malen, die so aussieht? Las Vegas wäre schönste Stadt der Welt. Jedenfalls– war so komisch! Da bringe ich dir ganz stolz bei, wie man im Magazin Äpfel und Bonbons klaut, und du hast ein internationales Meisterwerk der Kunst gestohlen. «
    » Ich hab’s nicht gestohlen. «
    Boris gluckste. » Nein, hast du erklärt. Du hast es in Sicherheit gebracht. Große, wichtige Pflicht im Leben. Willst du mir erzählen « , er beugte sich vor, » du hast es wirklich nicht mehr ausgepackt, um es anzuschauen? In all den Jahren nicht? Was ist los mit dir? «
    » Ich glaube dir nicht « , sagte ich noch einmal. » Wann hast du es genommen? « , fragte ich, als er die Augen verdrehte und wegschaute. » Und wie? «
    » Hör zu, wie ich gesagt habe… «
    » Wie kannst du erwarten, dass ich ein einziges Wort davon glaube? «
    Boris verdrehte noch einmal die Augen. Er zog sein Telefon aus der Tasche und rief ein Foto auf. Dann schob er es über den Tisch.
    Es war die Rückseite des Bildes. Eine Reproduktion der Vorderseite konnte man überall finden, aber die Rückseite war unverwechselbar wie ein Fingerabdruck. Dicke Tropfen Siegellack, braun und rot, ein unregelmäßiger Flickenteppich aus europäischen Etiketten (römische Zahlen, spinnwebartige Federkiel-Signaturen), die das Ganze aussehen ließen wie einen alten Reisekoffer oder einen internationalen Vertrag aus alter Zeit. Die bröselnden Gelb- und Brauntöne überlagerten einander mit einer fast organischen Üppigkeit– wie welkes Laub.
    Er steckte das Telefon wieder ein. Lange saßen wir schweigend da. Dann griff Boris nach einer Zigarette.
    » Glaubst du mir jetzt? « Er blies Rauch aus dem Mundwinkel.
    Die Atome in meinem Kopf kreiselten auseinander. Das Funkeln der Prise klang bereits ab, und Beklommenheit und Unruhe rückten unterschwellig heran wie die dunkle Luft vor einem Gewitter. Einen düsteren Augenblick lang schauten wir einander an: hochfrequente Chemie von Einsamkeit zu Einsamkeit, wie zwei tibetische Mönche auf einem Berggipfel.
    Dann stand ich wortlos auf und griff nach meiner Jacke. Boris sprang auch auf.
    » Warte « , sagte er, als ich mich an ihm vorbeischieben wollte. » Potter? Geh nicht weg wütend. Als ich gesagt habe, ich mache es wieder gut? Das war mein Ernst… «
    » Potter? « , rief er noch einmal, als ich durch den klappernden Perlenvorhang auf die Straße hinausging, ins schmutzig graue Licht des frühen Morgens. Die Avenue C war leer bis auf ein einsames Taxi, das offenbar ebenso froh war, mich zu sehen wie umgekehrt; jedenfalls kam es sofort heran und hielt vor mir an. Bevor er noch ein Wort sagen konnte, war ich eingestiegen, fuhr ab und ließ ihn stehen, in seinem Mantel, neben einer Reihe Mülltonnen.
    X
    Es war halb neun, als ich zum Lager kam. Mein Kiefer tat weh vom Zähneknirschen, und mein Herz stand kurz vor der Explosion.

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