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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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hinabreichen? Der Doktorhat von Burgen unter Burgen erzählt, bis ganz unten im Gebein der Welt. Burgen unter Burgen … unter Burgen …
    Ohne es zu merken, hatte er angehalten und sich einem der Quergänge zugewendet. Irgendwo in seinem Kopf sah er sich selbst und was für ein Bild er abgeben musste: zerlumpt, mit Erde verschmiert und mit dem Kopf wackelnd wie ein Blödsinniger; ein Faden Spucke hing von seiner Unterlippe.
    Die Öffnung vor ihm war unversperrt. Ein eigenartiger Duft nach getrockneten Blumen schwebte in dem dunklen Bogen. Simon machte einen Schritt vorwärts und fuhr sich mit dem Arm, der sich wie schweres, nutzloses Fleisch anfühlte, über den Mund. Mit der anderen Hand hielt er die Kristallkugel in die Höhe.
    Wie wunderschön! Was für ein wunderschöner Ort!
    Das in den blauen Schein gehüllte Zimmer war so vollkommen, als sei es eben erst verlassen worden. Die hochgewölbte Decke zierte ein Gitterwerk fein gemalter Linien, ein Muster, das an ein Dornengebüsch erinnerte, an blühende Ranken oder ein Labyrinth aus tausend Wiesenbächen. Die runden Fenster waren unter Geröll begraben; Erde war hereingefallen und auf den Fliesenboden gerieselt. Alles andere jedoch schien unberührt. Ein Bett stand dort – ein Wunderwerk aus kunstvoll geschwungenem Holz – und ein Stuhl, so fein wie Vogelknochen. Mitten im Raum gab es ein Wasserbecken aus poliertem Stein, das aussah, als könnte es sich jeden Augenblick mit plätscherndem Nass füllen.
    Ein Heim für mich. Ein Zuhause unter der Erde. Ein Bett, in dem ich schlafen könnte, so lange schlafen könnte, bis Pryrates und der König und die Soldaten alle nicht mehr da wären …
    Ein paar schleppende Schritte, und er stand vor dem Bett, einem Lager so rein und fleckenlos wie die Segel der Gesegneten. Aus einer Nische darüber starrte ein Gesicht auf ihn herunter, das herrliche, kluge Frauengesicht eines Standbildes. Aber irgendetwas stimmte nicht daran: Die Linien waren zu scharf, die Augen zu tiefliegend und weit, die Backenknochen hoch und scharf. Trotzdem war es ein Antlitz von großer Schönheit, eingefangen in durchsichtigem Stein, für immer in traurigem, wissendem Lächeln erstarrt.
    Als er die Hand ausstreckte, um ganz sanft die gemeißelte Wangezu berühren, stieß er mit dem Schienbein gegen den Bettrahmen, eine Berührung, so leicht wie ein Spinnenschritt, doch – das Bett zerfiel zu Staub. Gleich darauf, während er es noch voller Grauen anstarrte, löste sich die Büste in der Nische unter seinen Fingerspitzen in feine Asche auf. In einem einzigen Augenblick schmolzen die Züge der Frau. Simon machte einen ungeschickten Schritt zurück, das Licht der Kugel flackerte grell auf und verlosch dann bis auf ein trübes Glänzen. Der Aufprall seines Fußes auf dem Boden ließ den Stuhl und den zierlichen Brunnen zusammenfallen, Sekunden später begann auch die Decke herunterzurieseln, und die verschlungenen Zweige zerbröckelten zu feinem Staub. Die Kugel flackerte, als Simon auf die Tür zutaumelte, und als er mit einem Satz in den Gang hinaussprang, erlosch das blaue Licht langsam.
    Wieder stand er im Dunkeln. Er hörte jemanden weinen. Nach einer langen Minute setzte er sich stolpernd wieder in Bewegung, tiefer hinein in die unendlichen Schatten, und er wunderte sich, wer da noch Tränen übrig haben konnte und sie nun vergoss.
    Zeit war zu etwas geworden, das nur noch aus plötzlichen Ausbrüchen und erschrecktem Zusammenfahren bestand. Irgendwo hatte Simon die erloschene Kugel fallen lassen, die nun in der ewigen Dunkelheit lag wie eine Perle in den schwärzesten Gräben des geheimen Meeres. In einem letzten gesunden Bereich seiner lichtlos umherstreifenden Gedanken wusste er, dass er immer noch tiefer nach unten stieg.
    Nach unten in den Abgrund. Nach unten. Wohin? Auf was zu?
    Von Schatten zu Schatten, wie Küchenjungen sich immer fortbewegen. Totes Mondkalb. Geistermondkalb …
    Treiben … dahintreiben … Simon dachte an Morgenes, wie sich sein schütterer Bart in den Flammen gekräuselt hatte, dachte an den glänzenden Kometen, der rot und böse auf den Hochhorst heruntergeblickt hatte … dachte an sich selber, wie er durch die Räume aus schwarzem Nichts nach unten fiel – hinaufstieg? – wie ein kleiner, kalter Stern. Dahintreiben …
    Die Leere war vollständig. Die Finsternis, zuerst nur das Fehlen von Licht und Leben, begann Eigenschaften anzunehmen: enges,würgendes Dunkel, wenn die Tunnel schmaler wurden und Simon über

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