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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Halden von Geröll und ineinander verstrickte Wurzeln klettern musste; oder die hohe, luftige Dunkelheit unsichtbarer Gemächer, erfüllt vom pergamentenen Rascheln der Fledermausflügel. Während er sich den Weg durch diese riesenhaften unterirdischen Galerien ertastete und auf seine eigenen gedämpften Schritte und das zischende Herunterprasseln von Erde, die sich von den Wänden gelöst hatte, lauschte, verschwand jeder letzte Rest von Ortssinn. Nach allem, was er wusste, hätte er genauso gut senkrecht die Wand hinaufgehen oder über die Decken laufen können wie eine Fliege. Es gab weder rechts noch links; wenn seine Finger wieder auf feste Wände und Türen, die in andere Tunnel führten, stießen, tastete er sich sinnlos weiter durch noch mehr beengte Durchlässe und in andere fledermausquiekende, unermesslich weite Katakomben.
    Geist eines Mondkalbs!
    Überall roch es nach Wasser und Stein. Sein Geruchssinn und ebenso sein Gehör schienen in der blinden, schwarzen Nacht schärfer geworden zu sein, und während er sich mühsam immer weiter abwärtstastete, überschwemmten ihn die Gerüche dieser mitternächtlichen Welt – feuchte, lehmige Erde, fast so üppig wie Brotteig, und der milde und doch rauhe Duft der Felsen. Er schwamm in den bebenden, atmenden Gerüchen von Moos und Wurzeln, der geschäftigen, süßen Fäulnis winziger Wesen, die lebten und starben. Und über allem schwebte, alles durchdringend und alles komplizierend, die saure, mineralische Schärfe von Seewasser.
    Seewasser? Augenlos horchte er, jagte die dröhnenden Töne des Ozeans. Wie tief war er gekommen? Alles, was er vernahm, waren die Scharrgeräusche winziger Wesen und sein eigenes, stoßweises Atmen. Hatte er sich noch unter den Grund des Kynslagh gebohrt?
    Dort! Aus noch größerer Tiefe erklangen schwache, melodische Töne. Tropfendes Wasser. Die Wände waren feucht.
    Du bist tot, Simon Mondkalb. Ein Geist, dazu verdammt, in einer Leere zu spuken.
    Es gibt kein Licht. Nie hat es etwas Derartiges gegeben. Riechst du die Dunkelheit? Hörst du das Echo des Nichts? So war es immer schon gewesen.
    Alles, was er noch hatte, war die Furcht, aber immerhin war das etwas – er fürchtete sich, also lebte er! Da war die Finsternis, aber da war auch Simon! Und die beiden waren nicht dasselbe. Noch nicht. Nicht ganz …
    Und da, so langsam, dass er die Veränderung lange Zeit überhaupt nicht bemerkte, kam das Licht wieder. Es war ein so schwaches, trübes Licht, dass es zuerst weniger hell war als die farbigen Punkte, die vor seinen nutzlosen Augen tanzten. Dann sah er etwas Unheimliches vor sich, einen schwarzen Schemen, einen noch schwärzeren Schatten. Ein Klumpen sich windender Würmer? Nein – Finger … eine Hand … seine Hand! Vor ihm zeichneten sich ihre Umrisse ab, in matten Schein gehüllt.
    Die eng aneinandergeneigten Tunnelwände waren dick mit vielfach ineinander verflochtenen Moosbüscheln bewachsen, und dieses Moos war es, das leuchtete – ein bleicher, grünweißer Schimmer, der gerade genug Helligkeit spendete, dass Simon die schwärzere Dunkelheit des Tunnels vor sich und den das Licht verdeckenden Schatten der eigenen Hände und Arme erkennen konnte. Aber es war Licht! Licht! Simon lachte tonlos, und seine nebelhaften Schatten hüpften kreuz und quer durch den Gang.
    Der Tunnel mündete in eine weitere offene Galerie. Als Simon aufsah und über das Sternbild aus leuchtenden Moosbüscheln staunte, das an der weit entfernten Decke spross, fühlte er einen kalten Wassertropfen am Hals. Langsam tropfte noch mehr Wasser von oben herunter, und jeder Tropfen prallte mit dem Geräusch eines winzigen Hämmerchens, das gegen Glas klopft, unten auf den Fels. Die gewölbte Kammer war voll von hohen Steinsäulen, dick an beiden Enden, schmal in der Mitte; manche waren kaum dicker als ein Haar und erinnerten an Honigfäden. Während Simon sich mühsam weiterschleppte, wurde ihm in einem entfernten Winkel seines zermarterten Kopfes klar, dass das meiste hier das Werk von Stein und Tropfwasser war, nicht die Arbeit schaffender Hände. Aber dennoch erschienen Linien im schummrigen Licht, die nicht natürlich wirkten: rechtwinklige Spalten in den moosüberwuchterten Wänden, zerstörte Pfeiler, die sich allzu regelmäßig, um zufällig zu sein, zwischen den Stalagmiten erhoben. Simon war im Begriff,einen Ort zu durchqueren, der einmal etwas anderes gekannt hatte als den unaufhörlichen Rhythmus von Wasser, das in Pfützen auf den Steinboden

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