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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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an ihm vorbeizueilen, bärtige Männer mit Fackeln und Äxten, die andere, schlanker gebaute mit Schwertern und Bogen hetzten. Alle, Verfolger und Verfolgte, waren durchsichtig und vage wie Nebel. Keiner berührte oder bemerkte Simon, obgleich er mitten unter ihnen stand.
    Jingizu! Aya’ai! O Jingizu! , kam ein klagender Ruf.
    Tötet die Sithidämonen! , schrien rauhere Stimmen. Legt Feuer an ihr Nest!
    Seine Hände, fest über die Ohren gelegt, konnten die Stimmen nicht fernhalten. Simon taumelte weiter und versuchte dabei, den vorüberwirbelnden Gestalten auszuweichen. Er fiel durch eine Türöffnung und landete auf einem flachen Absatz aus glänzendem, weißem Stein.
    Unter seinen Händen fühlte er Moospolster, aber seine Augen sahen nichts als polierte Glätte. Er kroch auf dem Bauch weiter, immer noch auf der Flucht vor den entsetzlichen Stimmen, die vor Schmerz oder Wut kreischten. Seine Finger fühlten Risse und Vertiefungen, aber der Stein sah auch jetzt für ihn so fehlerlos aus wie Glas. Er erreichte den Rand und starrte auf ein großes, ebenes Feld aus schwarzer Leere, das nach Zeit und Tod und dem geduldigen Ozean roch. Ein unsichtbarer Kiesel rollte unter seiner Hand fort und fiel dann lange Augenblicke lautlos in die Tiefe, bis es weit unter ihm platschte.
    Neben Simon schimmerte etwas Großes, Weißes. Er hob den schweren, schmerzenden Kopf vom Rand des dunklen, unterirdischen Sees und sah auf. Nur ein paar Zoll von der Stelle, an der er lag, sprangen die untersten Stufen einer riesigen Steintreppe vor, einer nach oben schwingenden Spirale, die anstieg, an der Höhlenwand hinaufkletterte, dabei den unterirdischen See umkreiste und endlich oben in der Dunkelheit verschwand. Er rang nach Luft, als eine drängende, bruchstückhafte Erinnerung das Getöse in seinem Kopf durchbrach.
    Treppe. Die Tan’ja-Treppe. Der Doktor hat gesagt, such die Treppe.
    Er krallte sich fest, zog sich an dem kühlen, polierten Stein hoch und wusste, dass er unrettbar irrsinnig war oder gestorben und in einer furchtbaren Unterwelt gefangen. Er war unter der Erde, wo sie am finstersten war: Dort konnte es keine Stimmen mehr geben, keine gespenstischen Krieger. Und auch kein Licht, das die Stufen vor ihm gleißen ließ wie Alabaster im Mondschein.
    Also kletterte er, schob sich mit bebenden, vor Schweiß schlüpfrigen Fingern die nächste hohe Stufe hinauf. Während er weiter nach oben stieg, manchmal stehend, manchmal geduckt, spähte er über den Rand der Stufen. Der schweigende See, eine riesige Grube aus Schatten, lag am Grund einer gewaltigen kreisförmigen Halle, weit größer als die Gießerei. Die Decke erstreckte sich unermesslich weit hinauf und verlor sich mit den Spitzen der schlanken, schönen weißen Säulen, die die Höhle säumten, irgendwo in der Schwärze. Ein nebliges, zielloses Licht glitzerte auf den meerblauen und jadegrünen Wänden und fing sich in den Rahmen hochgewölbter Fenster, hinter denen jetzt ein drohendes Scharlachfeuer flackerte. Inmitten der perlblassen Nebel schwebte eine dunkle, unbestimmte Gestalt über dem See. Sie warf einen Schatten, wunderbar und entsetzlich zugleich, und erfüllte Simon mit unaussprechlichem, mitleidigem Schrecken.
    Prinz Ineluki! Sie kommen! Die Nordmänner kommen!
    Als dieser letzte leidenschaftliche Aufschrei von den dunklen Wänden in Simons Schädel widerhallte, hob die Gestalt in der Mitte der großen Halle den Kopf. Rotglühende Augen flackerten in ihrem Gesicht und durchschnitten den Nebel wie Fackeln.
    Jingizu, hauchte eine Stimme. Jingizu. So viel Leid.
    Das Scharlachlicht loderte auf. Von unten stieg das Geschrei von Tod und Furcht an Simons Ohr wie eine ungeheure Welle. Und mitten darin erhob die dunkle Gestalt einen langen, schlanken Gegenstand, und die wundersame Kammer erbebte, schimmerte wie ein zerbrochenes Spiegelbild und zerfloss im Nichts. Voller Grauen wandte Simon sich ab, als hätte man ein Leichentuch, aus Verlust und Verzweiflung gewebt, über ihn geworfen.
    Etwas war dahin. Etwas Schönes war unwiederbringlich zerstörtworden. Eine Welt war hier gestorben, und Simon fühlte, wie ihr versiegender Schrei sich in sein Herz bohrte wie ein uraltes Schwert. Die furchtbare Trauer, die ihn zerriss, vertrieb selbst die verzehrende Angst und zwang schmerzhafte, schaudernde Tränen aus Brunnen, die längst hätten ausgetrocknet sein sollen. Simon umarmte die Dunkelheit und taumelte weiter die endlose Treppe hinauf, die sich um die ungeheure Kammer

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