Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
lächelte er.
    »›Warum?‹, fragst du neugierig. ›Was gibt es zu berücksichtigen?‹ Die Antwort liegt überall um dich herum, auf jedem Baum und unter allen Felsen. Fühle! Rieche!«
    Simon schaute unglücklich nach allen Richtungen. Alles, was er sehen konnte, waren Bäume und Dornensträucher. Und noch mehr Bäume. Er stöhnte.
    »Nein, nein! Hast du denn gar keinen Verstand mehr übrig?«, rief Binabik. »Was hat man dir nur beigebracht in deinem klumpigen Ameisenhaufen aus Stein, in dieser … Burg.«
    Simon sah auf. »Ich habe nie gesagt, ich hätte in einer Burg gelebt.«
    »Mit großer Offensichtlichkeit wird es aber in allen deinen Handlungen deutlich.«
    Binabik drehte sich hastig um und betrachtete den kaum wahrnehmbaren Hirschpfad, dem sie folgten. »Schau«, verkündete er mit dramatischer Stimme, »das Land ist wie ein Buch, das du lesen solltest. Jedes kleine Ding« – ein keckes Grinsen – »hat eine Geschichte zu erzählen. Bäume, Blätter, Moose und Steine – auf ihnen stehen Dinge von höchst wundersamer Bedeutung …«
    »O Elysia, nein«, ächzte Simon, sank zu Boden und ließ den Kopf auf die Knie fallen. »Bitte lies mir nicht ausgerechnet jetzt das Buch des Waldes vor, Binabik. Meine Füße schmerzen, und mein Kopf tut weh.«
    Binabik beugte sich vor, bis sein rundes Gesicht nur wenige Zoll von Simons Stirn entfernt war. Nachdem er einen Augenblick das mit Dornen versetzte, verfilzte Haar des Jungen gemustert hatte, richtete der Troll sich wieder auf.
    »Ich vermute, dass wir hier in Ruhe rasten können«, sagte er undversuchte seine Enttäuschung zu verbergen. »Ich werde dir zu einem späteren Zeitpunkt von diesen Dingen berichten.«
    »Danke«, murmelte Simon, den Kopf zwischen den Knien.
    Der Aufgabe, das Abendessen zu jagen, entzog sich Simon an diesem Tag durch ein einfaches Mittel: Sowie sie das Lager aufschlugen, war er auch schon eingeschlafen. Binabik zuckte nur die Achseln, nahm einen langen Zug aus dem Wassersack und einen ähnlich langen aus dem Weinschlauch und machte dann einen kurzen Rundgang durch die Umgebung, an seiner Seite Qantaqa als schnüffelnden Geleitschutz. Nach einer reizlosen, aber sättigenden Mahlzeit aus getrocknetem Fleisch warf er, Simons tiefes Atmen im Hintergrund, die Knöchel. Beim ersten Durchgang deckte er Flügelloser Vogel, Fisch-Speer und Pfad im Schatten auf. Beunruhigt schloss er die Augen und summte eine Weile tonlos vor sich hin, während das Geräusch der nächtlichen Insekten ringsum langsam zunahm. Als er zum zweiten Mal warf, hatten sich die beiden ersten Zeichen in Fackel am Höhleneingang und Scheuender Widder verwandelt, aber der Pfad im Schatten tauchte erneut auf, und die Knochen lagen so eng beieinander wie die Überreste der Mahlzeit irgendeines reinlichen Fleischfressers. Binabik, der nicht zu den Leuten gehörte, die aufgrund der Knochen übereilte Entschlüsse fassen – dazu hatte sein Meister ihn zu gut ausgebildet –, schlief trotzdem, als er endlich Ruhe fand, mit Stab und Rucksack in unmittelbarer Reichweite.

    Als Simon erwachte, präsentierte ihm der Troll ein recht zufriedenstellendes Mahl aus gebratenen Eiern – Wachtel, erklärte er –, ein paar Beeren und sogar einigen blassen, orangeroten Knospen eines blühenden Baumes, die sich als durchaus essbar und auf ganz eigenartige Weise süß und gut zu kauen erwiesen. Auch das Gehen fiel ihm an diesem Morgen erheblich leichter als am Vortag, denn das Land wurde nach und nach offener, und die Abstände zwischen den Bäumen vergrößerten sich.
    Der Troll war den ganzen Morgen recht wortkarg gewesen.Simon war überzeugt, dass dies an seinem mangelnden Interesse an Binabiks Waldläuferkünsten lag. Als sie einen langen, sanften Abhang hinunterstiegen, über ihnen, hoch auf ihrer Morgenbahn himmelaufwärts, die Sonne, hatte er den Eindruck, etwas sagen zu müssen.
    »Binabik, möchtest du mir heute etwas über das Buch des Waldes erzählen?«
    Sein Gefährte lächelte, aber es war ein schmaleres, sparsameres Lächeln, als Simon an ihm gewöhnt war. »Natürlich, Freund Simon, aber ich fürchte, ich habe dir einen falschen Gedanken eingeflößt. Weißt du, wenn ich von dem Land als von einem Buch spreche, will ich damit nicht sagen, dass du es lesen sollst wie einen frommen Folianten, um dein geistliches Wohlbefinden zu fördern – obwohl man sicher auch aus diesem Grund auf seine Umgebung achten kann. Nein, ich spreche eher davon wie von einem Buch der Heilkunde, von

Weitere Kostenlose Bücher