Der Drachenbeinthron
die Nacht hinaufzudeuten. »Siehst du?«
Simon hielt den Kopf schief und kam näher. Oben war außer einer dünnen Sternenschleppe nichts zu erkennen. »Nein, ich sehe nichts.«
»Siehst du nicht das Netz?«
»Welches Netz?«
Binabik warf ihm einen sonderbaren Blick zu. »Lehren sie dich denn gar nichts in deiner verschachtelten Burg? Mezumiirus Netz!«
»Wer ist das?«
»Aha.« Binabik ließ den Kopf wieder sinken. »Die Sterne. Der Sternhaufen, den du dort über dir siehst, das ist Mezumiirus Netz. Es heißt, dass sie es auswirft, um ihren Gatten Isiki einzufangen, der ihr fortgelaufen ist. Wir Qanuc nennen sie Sedda, die Dunkle Mutter.«
Simon starrte zu den trüben Punkten hinauf; es sah aus, als wäre das dichte, schwarze Tuch, das Osten Ard von irgendeiner Welt des Lichtes trennte, an dieser Stelle fadenscheinig geworden. Wenn er die Augen zukniff, konnte er eine gewisse Fächerform der Ansammlung von Sternen erkennen.
»Sie sind sehr matt.«
»Der Himmel ist nicht klar, da hast du recht. Man sagt, dass es Mezumiiru so lieber ist, weil sonst die hellen Lichter, die Juwelen ihres Netzes, Isiki verscheuchen. Aber es gibt viele bewölkte Nächte, und sie hat ihn immer noch nicht gefangen …«
Simon machte schmale Augen. »Mezza … Mezo …«
»Mezumiiru. Mezumiiru die Mondfrau.«
»Aber du hast gesagt, dein Volk nennt sie … Sedda?«, fragte Simon stirnrunzelnd. – »So ist es. Sie ist die Allmutter, glauben die Qanuc.«
Simon dachte einen Augenblick nach. »Warum nennt ihr das« – er zeigte nach oben – »dann Mezumiirus und nicht Seddas Netz ?«
Binabik hob lächelnd die Brauen. »Eine gute Frage. Mein Volk nennt es tatsächlich so – oder genauer gesagt, wir nennen es Seddas Decke. Aber ich komme viel herum und lerne andere Namen, und schließlich und letztlich sind es ja die Sithi, die als Erste hier waren. Sie waren es, die vor langer Zeit allen Sternen Namen gaben.«
Der Troll saß eine Zeit lang da und starrte mit Simon zum schwarzen Dach der Welt empor. »Ich weiß etwas«, sagte er plötzlich. »Ich werde dir das Lied von Sedda vorsingen – oder einen kleinen Teil davon, vielleicht. Schließlich ist es ein Lied von großer Länge. Soll ich diesen Gesang versuchen?«
»Ja!« Simon kuschelte sich noch tiefer in seinen Mantel. »Bitte sing!«
Qantaqa, die sanft auf den Beinen des Trolls geschlafen hatte, erwachte, hob den Kopf und sicherte nach allen Seiten, wobei sie ein leises Grollen ausstieß. Auch Binabik schaute sich um und versuchte mit schmalen Augen die Finsternis um das Lagerfeuer zu durchdringen. Aber schon bald schubste Qantaqa, anscheinend befriedigt, alles in Ordnung zu finden, Binabik in eine ihrem großen Kopf angenehmere Stellung, legte sich wieder hin und schloss die Augen. Binabik streichelte sie, griff zu seiner Flöte und blies ein paar einleitende Töne.
»Verstehen musst du«, meinte er, »dass dies nur der Kern des ganzen Liedes sein kann. Ich werde alles erklären. Seddas Gemahl, den die Sithi Isiki nannten, heißt bei meinem Volk Kikkasut. Er ist der Beherrscher aller Vögel.«
Feierlich begann der Troll mit hoher Stimme zu singen. Es klang seltsam melodisch, wie Wind auf einem hohen Gipfel. Nach jeder Zeile hielt er inne, um seiner Flöte trillernde Töne zu entlocken.
Das Wasser, es fließt
bei Tohuqs Höhle,
der leuchtenden Höhle.
Sedda will spinnen,
die Himmelsherr-Tochter,
die bleiche, schwarzhaarige Sedda.
Der Vogelkönig im Flug
auf den Pfaden der Sterne,
den glanzhellen Pfaden,
sieht sie, sieht Sedda,
Kikkasut sieht sie und schwört,
dass sie sein wird.
»Gib deine Tochter mir,
die spinnende Tochter,
die Feinfaden spinnende Tochter.«
Kikkasut ruft ihn.
» Ich will sie kleiden
in leuchtende Federn!«
Tohuq, er lauscht ihm,
er hört schöne Worte,
des reichen Vogelkönigs Worte.
Er denkt an die Ehre
und gibt ihm nun Sedda,
der alte, gierige Tohuq.
»Und so«, erklärte Binabik in seiner Sprechstimme, »verkauft der alte Himmelsherr Tohuq, seine Tochter, an Kikkasut, für einen herrlichen Federumhang, aus dem er die Wolken formen will. Und Sedda zieht mit ihrem neuen Gatten in sein Land hinter den Bergen undwird dort Königin der Vögel. Aber es gibt nicht viel Glück in dieser Ehe. Bald fängt Kikkasut an, sie nicht mehr zu beachten, kommt nur noch nach Hause, um zu essen und Sedda zu beschimpfen.« Der Troll lachte leise und wischte das Ende der Flöte an seinem Pelzkragen ab.
»Ach, Simon, das ist immer so eine lange
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