Der Drachenbeinthron
Säuglinge sind, wenn man sie mit meinem Mintahoq vergleicht – aber dennoch, nur allein in der Nähe solcher Höhen zu sein, berauscht mich … wie Wein.«
Plötzlich ist er wieder wie ein Kind, dachte Simon und sah Binabiks kurzen Beinen nach, die ihn geschwind durch die Bäume und den Hang hinuntertrugen. Nein, dachte er dann, nicht wie ein Kind, das ist nur seine Größe, aber jung, sehr jung. – Wie alt ist er eigentlich?
Tatsächlich wurde der Troll, während Simon ihm hinterhersah, immer kleiner und kleiner. Der Junge fluchte milde vor sich hin und rannte ihm nach.
Sie stiegen erstaunlich schnell den breiten, dicht bewaldeten Kamm hinunter, auch wenn es Stellen gab, an denen sie wirklich klettern mussten. Simon war von der Geschicklichkeit, die Binabik an den Tag legen konnte, keineswegs überrascht – der Troll landete nach einem Sprung so sanft wie eine Feder, wirbelte weniger Staub auf als ein Eichhörnchen und zeigte sich so sicher auf den Füßen, dass,davon war Simon überzeugt, selbst die Widder der Qanuc sich dessen nicht geschämt hätten. Aber wenn auch Binabiks Behendigkeit ihn nicht wunderte, so doch seine eigene. Anscheinend hatte er sich etwas erholt, und ein paar ordentliche Mahlzeiten hatten ihren Teil dazu beigetragen, den Simon wiederherzustellen, den man auf dem Hochhorst einst den »Geisterknaben« genannt hatte – den furchtlosen Turmbesteiger und Mauerspringer.
Auch wenn er sich mit seinem im Gebirge geborenen Begleiter nicht vergleichen konnte, fand er doch, dass er sich wacker schlug. Nur Qantaqa hatte einige Schwierigkeiten, nicht, weil sie nicht trittsicher gewesen wäre, sondern wegen einzelner, steiler, für den geübten Kletterer kinderleichter Abstiege, die zum Herunterspringen allerdings zu hoch waren. Wenn sie sich in solch einer Lage befand, knurrte sie ein wenig, was jedoch eher ärgerlich als ängstlich klang, und trottete davon, um einen längeren Weg bergab zu suchen, bis sie dann, in der Regel schon nach kurzer Zeit, wieder zu ihnen stieß.
Als sie endlich einen vielfach gewundenen Hirschpfad entdeckten, der den letzten kleinen Hügel hinabführte, war die Nachmittagssonne schon unter die Himmelsmitte gesunken und stand ihnen warm im Nacken und hell im Gesicht. Eine lauwarme Brise fächelte die Blätter, war aber zu schwach, den Schweiß auf ihren Stirnen zu trocknen. Der Mantel, den Simon sich um die Mitte geknotet hatte, machte ihn so bauchlastig, als hätte er ein umfangreiches Mahl zu sich genommen.
Zu seiner Überraschung entschied sich Binabik, als sie endlich die oberen Wiesenhänge, den Anfang des Knochs, erreicht hatten, den Weg in nordöstlicher Richtung fortzusetzen, am Waldrand entlang, anstatt quer durch das flüsternde, sanft wogende Grasmeer zu gehen.
»Aber die Weldhelmstraße liegt auf der anderen Seite der Berge!«, wandte Simon ein. »Es ginge doch viel schneller, wenn wir …«
Binabik hob eine kräftige, kleine Hand, und Simon brach mürrisch ab. »Es gibt ›schneller‹, Simon-Freund, und es gibt auch schneller«, erklärte er, und das fröhliche Wissen in seiner Stimme reizteSimon beinahe – aber doch nicht ganz – dazu, etwas Höhnisches und Kindisches zu erwidern. Als er den bereits geöffneten Mund selbstbeherrscht wieder zugemacht hatte, fuhr Binabik fort.
»Siehst du, ich habe gedacht, es wäre schön – eine Schönheit? eine Schönigkeit? –, heute Abend an einem Ort Rast zu halten, an dem du in einem Bett schlafen und an einem Tisch essen könntest. Wie findest du das, hmmm?«
Simons ganzer Groll verpuffte wie Dampf, der unter einem hochgehobenen Topfdeckel hervorquillt. »Ein Bett? Wollen wir in eine Herberge?« Shems Geschichte vom Puka und den drei Wünschen fiel ihm ein, und er begriff, wie es jemandem zumute war, dessen erster Wunsch in Erfüllung ging – bis er sich jäh an die Erkyngarde erinnerte und an den gehängten Dieb.
»Keine Herberge.« Binabik lachte über Simons Eifer. »Aber genauso gut ist es – nein, besser. Es ist ein Ort, wo man dir Essen gibt und dich ruhen lässt und niemand fragt, wer du bist oder woher du kommst.« Er deutete über den Knoch dorthin, wo die andere Seite des Waldes zurückwich, bis sein Außenrand schließlich am Fuß des Weldhelmgebirges endete. »Da drüben ist es, auch wenn man es von hier aus nicht sehen kann. Komm!«
Aber warum können wir nicht einfach den Knoch überqueren? , grübelte Simon. Es sieht aus, als ob Binabik nicht so durch offenes Gelände laufen will …
Weitere Kostenlose Bücher