Der Drachenbeinthron
frei.
»Verschone mich mit diesen Nabbanai-Phrasen, Binabik.« Es war eine rauhe und doch melodische Stimme mit starkem, fremdartigem Akzent, doch unzweifelhaft eine Frauenstimme. »Ich wusste, dass du kommst. Qantaqa ist schon seit einer Stunde hier.« Die Wölfin am Ende der Rampe spitzte die Ohren. »Natürlich seid ihr willkommen. Glaubst du, ich würde euch abweisen?«
Binabik trat ins Haus. Simon, einen Schritt hinter ihm, fragte: »Wohin soll ich das kleine Mädchen bringen?«
Er duckte sich unter der Tür durch und gewahrte das hohe Dach und die langen, von vielen Kerzenflammen geworfenen, flackernden Schatten, dann stand Geloë vor ihm. Sie trug ein grobes Gewand aus graubraunem Stoff, mit einem Gürtel ungeschicktzusammengehalten. Sie war größer als der Troll, aber kleiner als Simon. Das Gesicht war breit und sonnengebräunt und voller Falten um Augen und Mund. Ihr dunkles Haar war überall mit Grau durchsetzt und kurz abgeschnitten, sodass sie fast wie ein Priester aussah. Aber es waren ihre Augen, die Simon fesselten, runde, schwerlidrige gelbe Augen mit großen, kohlschwarzen Pupillen. Es waren alte, wissende Augen, die würdevollen Augen eines Vogels aus dem Hochgebirge, und es lag eine Macht in ihnen, die Simon wie angewurzelt stehen bleiben ließ. Sie schien Maß zu nehmen, sein Innerstes nach außen zu kehren und ihn zu schütteln wie einen Sack, alles im selben Augenblick. Als sich ihr Blick endlich dem verletzten Mädchen zuwandte, fühlte er sich leer wie ein trockener Weinschlauch.
»Dieses Kind ist verwundet.« Es war keine Frage.
Simon ließ hilflos zu, dass sie ihm Leleth aus den Armen nahm. Binabik kam herbei.
»Sie ist von Hunden angefallen worden«, erklärte der Troll. »Hunden mit dem Brandzeichen der Sturmspitze.«
Wenn er einen Blick voller Überraschung oder Furcht erwartet hatte, wurde er enttäuscht. Geloë drängte sich energisch an ihm vorbei und ging zu einem Strohsack am Boden, wo sie das Mädchen niederlegte. »Sucht euch etwas zu essen, wenn ihr hungrig seid«, sagte sie. »Ich muss jetzt an die Arbeit. Ist man euch gefolgt?«
Binabik berichtete ihr rasch die Ereignisse der letzten Stunden, während Geloë den reglosen Körper des Kindes entkleidete. Endlich kam auch Malachias herein. Er hockte sich neben den Strohsack und blieb auch dort, als Geloë Leleths Wunden säuberte. Als er ihr dabei zu nahe kam und ihre Bewegungen hinderte, berührte die Valada mit ihrer sommersprossigen Hand den Jungen leicht an der Schulter. Einen Augenblick hielt sie ihn fest und sah ihn an, bis Malachias aufblickte und zurückzuckte. Gleich darauf suchte er noch einmal Blickkontakt zu Geloë, und die beiden schienen eine stumme Botschaft auszutauschen, bevor sich Malachias abwandte und an die Wand setzte.
Binabik schürte das Feuer, das in einem geschickt angelegten, tiefen Schacht im Boden brannte. Der Rauch – von dem es erstaunlich wenig gab – zog zur Decke hin ab. Simon überlegte, dass es in dengrauen Schatten dort oben einen verborgenen Schornstein geben musste.
Die Hütte selbst, die eigentlich nur aus einem einzigen, großen Raum bestand, erinnerte ihn in mancherlei Weise an Morgenes’ Studierzimmer. An den lehmbestrichenen Wänden hingen lauter merkwürdige Dinge: zu sorgfältigen Bündeln geschnürte belaubte Zweige, Säckchen mit getrockneten Blumen, die ihre Blütenblätter fallen ließen, und Halme, Schilfrohr und lange, glitschige Wurzeln, die alle aussahen, als hätten sie recht widerwillig den See unter ihnen verlassen. Der Feuerschein flackerte auch über eine Vielzahl kleiner Tierschädel, deren helle, glattpolierte Oberflächen es beschien, ohne in das Dunkel der Augenhöhlen eindringen zu können.
Eine ganze Wand war zwischen Boden und Decke durch ein hüfthohes Bord aus über einen Rahmen gespannter Baumrinde geteilt. Es war ebenfalls mit sonderbaren Gegenständen bedeckt: Tierfellen und kleinen Bündeln aus Stöckchen und Knochen, schönen, vom Wasser glatt geschliffenen Kieseln in allen Formen und Farben und einer sorgsam aufgeschichteten Sammlung von Schriftrollen, die aussahen wie ein Bündel Brennholz. Es war alles so vollgestopft, dass Simon eine Weile brauchte, bis er merkte, dass es eigentlich gar kein Regal, sondern ein Schreibtisch war; neben den Schriftrollen lagen ein Stapel Pergament und ein Federkiel in einem aus einem weiteren Tierschädel gefertigten Tintenfass.
Qantaqa winselte leise und stieß mit der Nase gegen seinen Oberschenkel. Simon
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