Der Drachenbeinthron
sprang auf und war mit wenigen Schritten an der Tür. Warum hatte der alte Mann nicht geklopft? Und was war das für eine Art, so spät nach Hause zu kommen? Vielleicht war er auf einer seiner geheimnisvollen Reisen gewesen und hatte sich törichterweise selber ausgesperrt – natürlich, das musste es sein! Ein Glück, dass Simon da war, um ihnhereinzulassen. Er mühte sich mit dem im Schatten liegenden Schloss ab. »Was habt ihr angestellt, Doktor Morgenes?«, flüsterte er. »Ich warte schon so lange auf Euch!« Keine Antwort.
Gerade war er dabei, den Riegel aus seinem Loch zu ziehen, als ihn ein jähes Gefühl des Unbehagens überkam. Er ließ die halb entriegelte Tür, wie sie war, und stellte sich auf die Zehen, um durch einen Spalt zwischen den Türbrettern zu spähen.
»Doktor?«
Im inneren Korridor, vom blauen Licht der Lampen beleuchtet, stand die von Kapuze und Mantel verhüllte Gestalt des Alten. Das Gesicht lag im Schatten, aber sein zerlumpter alter Mantel, der schmale Körperbau, die weißen Haarsträhnen, die unter der Kapuze hervorschauten, bläulich im Lampenschein, alle diese Dinge waren unverwechselbar. Warum antwortete er nicht? Hatte er sich verletzt?
»Fehlt Euch etwas?«, fragte Simon und zog die Tür nach innen auf. Die kleine, gebeugte Gestalt regte sich nicht. »Wo seid Ihr gewesen? Was habt Ihr herausgefunden?« Er glaubte, der Doktor hätte etwas gesagt, und beugte sich vor.
Die Worte, die zu ihm heraufdrangen, waren voller Luft, schmerzhaft rauh. »… Falscher … Bote …«, war alles, was er verstand. Der trockenen Stimme schien das Sprechen schwerzufallen. Und dann hob sich das Gesicht, und die Kapuze fiel nach hinten.
Der Kopf, der den zerzausten weißen Haarkranz trug, war eine verbrannte, geschwärzte Ruine, ein Klumpen mit zersprungenen, leeren Höhlen als Augen; der spindeldürre Hals, auf dem er wackelte, ein verkohlter Stock.
Als Simon zurücktaumelte, in der Kehle einen Schrei, der festsaß und nicht herauskonnte, lief eine dünne, rote Linie über die Vorderseite der schwarzen, ledrigen Kugel, und gleich darauf öffnete sich der Mund zu einem breiten Grinsen und zeigte rosa Fleisch.
»Der … falsche … Bote«, sagte das Wesen, jedes Wort ein rasselndes Keuchen, » … hüte … dich …«
Und dann schrie Simon, bis ihm das Blut in den Ohren dröhnte, denn das verbrannte Ding sprach, es gab keinen Zweifel, mit Doktor Morgenes’ Stimme. Es dauerte lange, bis sein jagendes Herz ruhiger wurde. Stoßweise atmend, saß er da, Binabik neben ihm.
»Hier ist nichts Böses«, versicherte der Troll und legte Simon die Handfläche auf die Stirn. »Du bist kalt wie Eis.«
Geloë kam von dem Strohsack herüber, wo sie Malachias die Decke wieder übergelegt hatte, die dieser fortgestoßen hatte, als Simons Schrei ihn jäh aus dem Schlaf riss.
»Hattest du schon solche starken Träume, als du noch in der Burg wohntest, Junge?«, fragte sie, nachdem er ihnen den Traum beschrieben hatte, und sie musterte ihn dabei mit so strengem Blick, als wollte sie sehen, ob er es wagte, das abzustreiten. Simon schauderte. Vor diesem überwältigenden Blick hatte er nicht den Wunsch, etwas anderes als die Wahrheit zu erzählen. »Erst in den … letzten paar Monaten … bevor …«
»Bevor Morgenes starb«, ergänzte Geloë knapp. »Binabik, wenn mich das Wissen, über das ich verfüge, nicht ganz und gar verlassen hat, kann ich nicht glauben, dass es ein Zufall ist, wenn er in meinem Haus von Morgenes träumt. Nicht so einen Traum.«
Binabik fuhr sich mit der Hand durch das vom Schlaf zerwühlte Haar. »Valada Geloë, wenn Ihr es nicht wisst, wie dann ich? Tochter der Berge! Mir ist, als lauschte ich auf Geräusche im Dunkeln. Ich kann die Gefahren nicht erkennen, die uns umgeben, aber ich weiß, dass es Gefahren sind. Simon träumt eine Warnung vor ›falschen Boten‹ … aber das ist nur eines von allzu vielen geheimnisvollen Dingen. Warum die Nornen? Der Schwarze Rimmersmann? Die schmutzigen Bukken?«
Geloë trat zu Simon und schob ihn sanft, aber energisch auf seinen Mantel zurück. »Versuch wieder einzuschlafen«, sagte sie. »Nichts wird das Haus der Zauberfrau betreten, das dir Übles zufügen könnte.«
Sie wandte sich an Binabik. »Ich denke, wenn sein Traum so zusammenhängend ist, wie es den Anschein hat, wird er uns bei unserer Suche nach Antworten nützlich sein.«
Auf dem Rücken liegend, sah Simon die Valada und den Troll als schwarze Silhouetten vor dem
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