Der Drachenbeinthron
nach, warum Gott gerade ihm so üble Erfahrungen zugedacht hatte – wenn es denn überhaupt stimmte, dass Er, wie Vater Dreosan immer behauptete, ein Auge auf jeden Einzelnen hatte.
Aber es gab mehr zu bedenken als nur seine Empörung. Binabik und die anderen schienen auf ihn zu zählen, und das war etwas, woran Simon nicht gewöhnt war. Man erwartete jetzt etwas von ihm. »Ich werde es tun«, erklärte er schließlich. »Aber sag mir noch eins. Was ist wirklich mit deinem Meister geschehen? Wie ist er gestorben?«
Binabik nickte langsam mit dem Kopf. »Ich habe gehört, dass es zweierlei Arten von Dingen gibt, die einem auf der Straße widerfahren können … gefährlichen Dingen. Das erste, und das geschieht in der Regel nur dem Ungeübten, tritt ein, wenn man ohne die nötige Weisheit auf der Straße zu gehen versucht: Man kann die Stellen übersehen, an denen die Traumstraße und der Weg des an die Erde gebundenen Lebens in verschiedene Richtungen führen.« Er hielt die Handflächen schräg aneinander. »Dann findet der Wanderer den Rückweg nicht. Doch ich glaube, dass Ookequk dazu viel zu klug war.«
Der Gedanke daran, allein und heimatlos in diesem Reich der Fantasie herumzuirren, brachte in Simon etwas zum Klingen, und er sog tief die feuchte Luft ein.
»Und was ist nun mit Ook – mit Ookequk geschehen?«
»Die andere Gefahr, so lehrte er mich«, fuhr Binabik fort und erhob sich, »ist, dass es außer den Weisen und den Guten noch andere Wesen gibt, die über die Straße der Träume wandern, und auch andere Träumer, die gefährlich sind. Ich denke mir, dass er einem davon begegnet ist.«
Binabik ging Simon voran die kleine Rampe zur Hütte hinauf.Geloë entkorkte ein breites Gefäß, steckte zwei Finger hinein und zog sie, bedeckt mit einer dunkelgrünen Paste, die noch klebriger war und noch seltsamer roch als der Moosbrei, wieder hervor
»Beug dich vor«, befahl sie und strich Simon einen Klecks davon auf die Stirn, gerade über der Nase; dann tat sie das Gleiche bei sich selbst und Binabik.
»Was ist das?«, wollte Simon wissen. Es fühlte sich eigenartig an auf der Haut, heiß und kalt zugleich.
Geloë ließ sich vor dem Feuer am Boden nieder und winkte dem Jungen und dem Troll, sich zu ihr zu setzen. »Nachtschatten, Trugblatt, Weißholzrinde, damit es die richtige Konsistenz bekommt …« Sie plazierte Jungen, Troll und sich selber im Dreieck um die Feuerstelle und setzte den Topf mit der Paste neben ihrem Knie auf die Erde.
Das Gefühl auf seiner Stirn war höchst sonderbar, fand Simon und sah der Valada zu, wie sie grüne Zweige ins Feuer warf. Weiße Rauchbänder kräuselten sich in die Höhe und verwandelten den Raum zwischen ihnen in eine dunstige Säule, durch die Geloës Schwefelaugen glühten, in denen sich der Feuerschein spiegelte.
»Nun verreibt das auf beiden Händen«, sagte sie und holte für jeden von ihnen einen weiteren Klecks heraus, »und betupft euch die Lippen – aber nichts in den Mund! Nur einen Tupfer, so …«
Als sie fertig waren, ließ Geloë sie einander bei den Händen fassen. Malachias, der, seitdem Simon und der Troll zurückgekehrt waren, noch kein Wort gesprochen hatte, saß neben dem schlafenden Kind auf dem Strohsack und schaute zu. Der seltsame Junge machte einen angespannten Eindruck, hatte aber grimmig die Zähne zusammengebissen, als zwinge er sich, die eigene Unruhe zu verbergen. Simon streckte nach beiden Seiten die Arme aus und spürte an der linken Binabiks kleine, trockene Finger und ergriff mit der Rechten Geloës kräftige Hand.
»Haltet gut fest«, forderte die Zauberfrau sie auf. »Es wird nichts Schreckliches geschehen, wenn ihr loslasst, aber es ist besser, wenn ihr es nicht tut.« Sie senkte den Blick und begann in leisen, unverständlichen Worten vor sich hin zu murmeln. Simon starrte auf ihre sich bewegenden Lippen, die Lider, die ihre großen Augenverdeckten; wieder fiel ihm auf, wie sehr sie einem Vogel glich, einem stolzen, steil in die Höhe steigenden Vogel. Während er weiter durch die Rauchsäule blickte, begann ihm das Prickeln auf Handflächen, Stirn und Lippen allmählich unangenehm zu werden.
Plötzlich war es ringsum finster, als habe sich eine dichte Wolke vor die Sonne geschoben. Gleich darauf konnte er nur noch den Rauch und das rote Glühen des Feuers erkennen, alles andere war hinter einer schwarzen Wand verschwunden, die auf einmal zu allen Seiten aufragte. Seine Augen wurden schwer, und er hatte das Gefühl, als
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