Der Drachenbeinthron
lief oben spitz zu wie ein seltsamer Hut, und das dunkle Holz der Wände war über und über mit schwarzen und blauen Runenmalereien bedeckt. Während er so um das Haus herum und zum Ufer hinabging, verschwanden die Zeichen und tauchten wieder auf, je nachdem, wie das Sonnenlicht auf sie fiel. Schlammverkrustet in den dunklen Schatten unter der Hütte schienen auch die Doppelstelzen, auf denen sie stand, mit einer Art ungewöhnlicher Schindeln verkleidet zu sein.
Qantaqa war zu ihrem Fischkadaver zurückgekehrt und zupfte die letzten Fleischfetzen von den schmalen Gräten. Simon setzte sich neben sie auf einen Felsen, rutschte jedoch ein kleines Stück weiter, als die Wölfin warnend knurrte. Er warf ein paar Kiesel in den alles verschlingenden Nebel und lauschte ihrem Aufspritzen, bis Binabik sich zu ihm gesellte.
»Frühstück für dich?«, fragte der Troll und reichte ihm einen Kanten knuspriges Schwarzbrot, dick mit würzigem Käse bestrichen. Simon aß es gierig auf. Dann saßen die beiden nebeneinander und sahen ein paar Vögeln zu, die im Sand des Seeufers herumpickten.
»Valada Geloë möchte, dass du uns bei unserem Vorhaben heute Nachmittag begleitest«, sagte Binabik endlich.
»Was für ein Vorhaben?«
»Eine Suche. Suche nach Antworten.«
»Und wie wollen wir suchen? Gehen wir irgendwohin?«
Binabik betrachtete ihn ernst. »In gewisser Weise, ja – nein, schau mich nicht so ärgerlich an! Ich will es erklären.« Er warf einen Kiesel, »Es gibt etwas, das manchmal getan wird, wenn andere Wege, etwas herauszufinden, verschlossen sind. Etwas, dass die Weisen tun können. Mein Meister Ookequk nannte es ›auf der Straße der Träume gehen‹.«
»Aber das hat ihn das Leben gekostet!«
»Nein! Das heißt …« Der Troll machte ein sorgenvolles Gesicht und suchte nach Worten. »Das heißt, ja, er starb auf dieser Straße. Aber man kann auf jeder Straße den Tod finden, es bedeutet nicht, dass jeder, der sie geht, stirbt. Auch auf eurer Mittelgasse sind Menschen von Wagen überrollt worden, aber hundert andere bewegen sich dort jeden Tag und kommen nicht zu Schaden.«
» Was genau ist die Straße der Träume?«, fragte Simon.
»Ich muss zuerst gestehen«, erwiderte Binabik mit einem traurigen Lächeln, »dass die Traumstraße gefährlicher ist als die Mittelgasse. Mein Meister lehrte mich, dass diese Straße wie ein Bergpfad ist, der höher liegt als alle anderen.« Der Troll reckte über seinem Kopf die Hand in die Luft. »Von dieser Straße aus, auch wenn der Aufstieg zu ihr große Schwierigkeiten mit sich bringt, kannst du Dinge sehen, die du sonst niemals erblicken würdest – Dinge, die von der Straße des Alltages aus unsichtbar sind.«
»Und das Träumen?«
»Ich wurde gelehrt, dass das Träumen ein Weg ist, zu dieser Straße hinaufzugelangen, ein Weg, den jeder gehen kann.« Binabik runzelte die Stirn. »Aber wenn jemand einfach dadurch, dass er nachts träumt, die Straße erreicht, kann er nicht auf ihr weitergehen: Er sieht sie nur von der einen Stelle aus und muss von dort wieder hinab. Sodass – das hat mir Ookequk gesagt – dieser Träumer oft nicht weiß, was er wirklich gesehen hat. Manchmal«, der Troll deutete auf den Nebel, der über Bäumen und See hing, »erblickt er nur Nebel. Aber der Weise kann, wenn er erst einmal die Kunst beherrscht, zu ihr hinaufzusteigen, auf der Straße weitergehen. Er kann sich bewegen und schauen und die Dinge sehen, wie sie sind und wie sie sich ändern.« Er hob die Schultern. »Erklären ist schwer. Die Traumstraße ist ein Ort, an den man geht, um etwas zu sehen, das man hier, wo wir unter der wachen Sonne stehen, nicht deutlich erkennen kann. Geloë hat viele solcher Reisen unternommen, und auch ich besitze einige Erfahrung darin, obwohl ich kein Meister bin.«
Simon saß eine Weile still da und starrte auf das Wasser hinaus. Er dachte über Binabiks Worte nach. Das andere Ufer des Sees war unsichtbar; müßig überlegte er, wie weit es wohl entfernt seinmochte. Seine müden Erinnerungen an ihre Ankunft gestern waren so dunstig wie die Morgenluft.
Jetzt, wo er darüber nachdachte, erkannte er, wie weit er schon gekommen war. Einen langen Weg, weiter, als ich je zu reisen gedachte. Und sicher liegen noch viele Meilen vor mir. Lohnt sich das Risiko, damit unsere Chancen steigen, lebendig nach Naglimund zu kommen?
Warum musste er überhaupt solche Entscheidungen treffen? Es war wirklich schrecklich ungerecht. Verbittert grübelte er darüber
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